Montag, 21. Oktober 2024

Zadie Smith - Zähne Zeigen

 







Autor:

Zadie Smith ist eine britische Schriftstellerin, geboren 1975 als Tochter einer jamaikanischen Mutter und eines britischen Vaters. Bereits während ihres Studiums der englischen Literatur begann sie erste Kurzgeschichten zu veröffentlichen. Nach dem ersten Erfolg hatte Smith zunächst Probleme, weiter zu schreiben und bereits ihr zweiter Roman fiel bei den Kritikern durch. Aber danach kehrte der Erfolg zurück, so dass bis heute sechs Romane und zahlreiche Kurzgeschichten erschienen sind. Smith arbeitet auch als Hochschullehrerin.

Buch:

Dieses Werk war der Erstling von Smith und erschien im Jahr 2000. Das Buch wurde schnell ein großer internationaler Erfolg und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Interessanterweise ist der Roman das jüngste Werk auf der Leseliste der Universität Tübingen und hat daher meine Aufmerksamkeit bekommen.  


Hauptfiguren:

  • Alfred Archibald ‚Archie’ Jones, 
  • Samad ‚Sam’ Miah Iqbal, bengalischer Muslim, sein alter Freund
  • Alsana Begum, Sams jüngere Ehefrau
  • Millat, ihr Sohn
  • Magid, sein Zwillingsbruder, von den Eltern nach Indien zur Familie geschickt
  • Clara Iphigenia Bowden, Archies zweite Ehefrau
  • Irie Jones, ihre Tochter
  • Poppy Burt-Jones, Musiklehrerin von Samads Kindern
  • Joyce Chalfen, Mutter des Mitschülers von Irie und Millat
  • Marcus, ihr wissenschaftlich tätiger Ehemann
  • Joshua, ihr Sohn
  • Neena, Cousine von Millat
  • Hortense Bowden, jamaikanische Großmutter von Irie
  • Mo Hussein, pakistanischer Besitzer einer Fleischerei in Nord-London

Inhalt und Rezeption:

Starker Beginn: Der 47-jährige Archie sitzt am 1.1.1975 in seinem Auto und will sich mittels Abgasen umbringen. Aber das Schicksal hat etwas dagegen. „Eine hauchfeine Schicht Glück lag auf ihm wie frischer Tau.“. Der Fleischerei Besitzer Mo verhindert den Suizid. Warum wollte er nicht mehr leben? Weil er seit 1946 viel zu lange mit seiner ungeliebten italienischen Frau seine Lebenszeit verschwendet hatte. Auf Seine Freundschaft mit Sam, den er im letzten Kriegsjahr kennengelernt hatte. Noch am selben Tag lernt Archie in einer Kommune die junge Jamaikanerin und Zeugin Jehovas Clara Bowden kennen, der die oberen Zähne bei einem Unfall mit der Vespa ihres Exfreundes ausgeschlagen worden waren (daher der Titel) Nur 6 Wochen später heiratet er Clara, die froh ist, aus den religiösen Fängen der Mutter zu entkommen. 

Im Nachgang zu seiner Rettung blickt Archie auf sein Leben zurück. Rückblick in das Jahr 1945, als Archie und Samad zusammen in einem defekten Panzer in Bulgarien stranden und dort ihre Freundschaft begründen und das Ende des zweiten Weltkrieges verpassen. Da sie aber dennoch als Kriegshelden in die Geschichte eingehen wollen, bemächtigen sie sich beim Pokerspiel mit russischen Soldaten eines französischen, aber für die Nazi arbeitenden Euthanasie-Arztes namens Krank, den Archie dann erschießen soll, um seinem Kumpel zu beweisen, dass er ein echter britischer Soldat ist, der für etwas kämpft. Diese Szene ist sachlich betrachtet natürlich ziemlich wirr, aber süffig geschrieben und greift durchaus eine wichtige moralisches Frag es Krieges auf. Darf ich im Krieg den Feind töten, wenn ich weiß, was der Schlimmes angestellt hat? Hat er ihn erschossen? Das löst sich erst am Ende auf.

Nun werden Geschichten aus Samads Leben erzählt, etwa wie er sich als 57-jähriger in die viel jüngere Poppy verliebt ("Okay, keine Partnervermittlung hätte uns beiden zusammengeführt. Na und?") und mit seinen Gefühlen sowie seinem schlechten Gewissen kämpft, herrlich die Szene, als er zusammen mit Poppy die verrückte Mad Mary trifft und meint, sie könne in sein schlechtes Gewissen hineinsehen. 

Einzelne Geschichten wie die über den Urgroßvater Sams, Mangal Pande als Wegbereiter der indischen Befreiung von den Engländern sind aber auch weniger unterhaltend und etwas langatmig. 

Weiter geht es mit der mit ihrem Gewicht und ihrem Aussehen hadernden Irie, die die Gene ihrer jamaikanischen Mutter geerbt hat und als Pubertierende nun unbedingt abnehmen will. Die Geschichte aus der Schule, wo sie mit Millat, dem Sohn von Samad, in einer Klasse geht und in ihn verliebt ist, zeigt wieder einmal wunderbar die Themen und Probleme in einer jugendlichen Multi-Kulti Gesellschaft auf. Als es um Hautfarbe geht, heißt es zu derjenigen der Lehrerin lakonisch: " Sie hatte die Farbe von Erdbeermousse." Herrlich die Szene im Haarsalon, als sie unbedingt glatte Haare haben will mit dem Ergebnis: "Sie sah aus wie ein Kind der Liebe zwischen Diana Ross und Engelbert Humperdinck."

Irie und Millat sowie ihre Mitschüler Joshua werden in der Schule mit Marihuana erwischt und müssen als Strafe Nachhilfe nehmen bei Joshua, das Projekt des Schulleiters lautet, Unterschichtkinder sollen zu Mittelschichtfamilien kommen und können dort etwas lernen. Aber schon bald verbringen die beiden aus unterschiedlichen Gründen fast die ganze Zeit bei der vermeintlich ach so typischen englischen Familie Chalfen, die hiermit auch in die Geschichte eingeführt wird. Und ihre beiden Mütter haben Angst, dass die Familie Chalfen sie zu sehr englischisiert, daher schicken sie Neena, Millats Cousine zu der Familie, um zu klären, was da vor sich geht. Überhaupt ist die Familie Chalfen zunehmend im Mittelpunkt, wunderbar, wie Smith die pseudo-gestelzten Dialoge der Familie untereinander konstruiert.

Millat ist am meisten zwischen den Kulturen gefangen. Als Frauenheld schläft er mit unzähligen Frauen, die meisten weiße Engländerinnen, parallel wird er durch eine fiktive radikale islamische Organisation (HEINTZ) zum islamistischen Frauenbild hingeführt. Er ist innerlich zerrissen. Irie ist auch zerrissen, sie flieht zur Großmutter, die ziemlich verblendet ist von den Zeugen Jehovas. Dort taucht sie ein in die jamaikanische Vergangenheit ihrer Familie.

Im weiteren (zeitlichen) Verlauf wird Marcus Chalfen ein berühmter Genforscher und Professor, Irie bleibt seine Sekretärin und Magid kehrt endlich aus Indien zurück und wird auch über die bisherige Brieffreundschaft hinaus ein enger Vertrauter von Marcus. Aber die gentechnischen Forschungen an Mäusen erregen den Hass der Islamisten rund um die Gruppe HEINTZ, die bei einer öffentlichen Präsentation der Forschungsergebnisse von Marcus zuschlagen wollen, insbesondere Millat will dies auch gewalttätig tun. Und Joshua schließt sich der Tierschutzorganisation FAST an, eigentlich weil er in die verheiratete Leiterin verliebt ist, aber auch weil er gegen seine Familie revoltiert. Beide Gruppen schließen sich dann zusammen, um gegen die Genversuche zu agitieren. Und schließlich wollen auch die Zeugen Jehovas protestieren, Iries Großmutter will gar auf der zur Präsentation der Ergebnisse der Forschung angesetzten Veranstaltung am 31.12.1992 in den Hungerstreik treten.

Showdown: Der ist dann ganz anders als erwartet. Statt all der geplanten Störungen (nur die Zeugen Jehovas singen draußen) geht die Geschichte zurück zu Archie und Dr. Frank. Erst jetzt erfährt der Leser, dass er damals eine Münze geworfen hat, um über das Schicksal des Arztes zu entscheiden, aber das ging schief, der Arzt bemächtigte sich seiner Waffe und schoss Archie ins Bein. An diese Szene erinnert sich Archie genau an diesem Silvesterabend, als er  Millat davon abhalten will, auf Marcus zu schießen. Damit ist die Geschichte einfach zu Ende.


Lesespaßfaktor

Das Buch ist eine große, zeitgenössische Komödie, eine Geschichte dreier Familien im London der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ihrer Neurosen, ihrer jeweiligen Familiengeschichten. Die Geschichte schwankt zwischen den Religionen (Christentum incl. besonders christlichen Zeugen Jehovas vs. Islam), zwischen den Hautfarben, zwischen der kulturellen Prägung, zwischen Arbeiter- und Bildungshaushalten. Und der Humor ist frech, aber keineswegs peinlich. Wunderbar gelungene Metaphern erwecken Archies Erinnerungen an sein bisher tristes Leben zum Leben („Als der Wagen sich allmählich mit Gas füllte, hatte er den obligatorischen Flashback auf sein Leben bis zu diesem Tag. Wie sich herausstellte, war es ein kurzes unerbauliches Seherlebnis mit niedrigem Unterhaltungswert, das metaphysische Äquivalent zu einer Rede der Königin.“). 

Das Werk ist durchzogen von humoristischen Anekdoten und dem subtilen Spiel mit Vorurteilen (Samads Kinder machen Kopfstände zur körperlichen Ertüchtigung, Schulsport sei nicht notwendig). Dabei kommen auch die religiösen Unterschiede nicht zu kurz. Der liberale Muslim Samad sagt sich dann, er habe "nicht die richtige Religion für Kompromisse, Abmachungen, Verträge, Schwächen und Mehr-kann-man-nicht-verlangen". Es geht um Einwanderer im modernen England, um jugendliche Gangs in den 80er und 90er. Zadie Smith schafft es, mit tollem lakonischen Humor die Gegensätze der verschiedenen Gruppen (Engländer, Inder, Jamaikaner und auch Unter- und Mittelschicht) aufzuzeigen. 
"So seltsam es auch klingt, es gibt viele Menschen, die nicht mit Afrokrause vor das Angesicht des Herrn treten wollen."
Die Metaphern sind durchgängig auf ganz hohem Niveau:
"Irie dachte an ihre eigenen Eltern, deren Berührungen virtuell waren, nur stellvertretend über Dinge stattfanden, die beide zuvor angefasst hatten; die Fernbedienung, ..."

Technisch sehr gut gelungen ist  Zadie Smith das Verknüpfen der einzelnen Figuren quer durch den Roman, wie etwa im letzten Drittel plötzlich wieder Mo auftaucht und sich in der islamistischen Organisation HEINTZ zusammen mit Millat radikalisiert. Und die Klammer zwischen der Geschichte in Bulgarien aus dem Jahr 1945 und dem Schluss 1992 kommt überraschend, das ist ist große Literatur einer beim Erscheinen des Buches noch sehr jungen, aufregenden Autorin.