Donnerstag, 30. November 2023

Richard Ford - Kanada

 

Autor:

Ford, Jahrgang 1944, ist über Umwege zur Schriftstellerei gekommen. Vergebliche oder abgebrochene Versuche, Hotelmanager (sein Großvater leitete ein Hotel) oder Sportreporter zu werden führten trotz seiner Leseschwäche am Ende zu einem Studium der Literatur in Kalifornien. Seinen ersten Roman veröffentlichte Ford 1976, er wurde gleich für einen nach Hemingway benannten Preis für die beste Erstveröffentlichung nominiert. In punkto Verkaufszahlen waren seine ersten Werke trotz guter Kritiken nicht sehr erfolgreich. Nachdem Ford 1981 für 1 Jahr tatsächlich Sportreporter war, nach dem Einstellen des Blattes aber keine weitere Beschäftigung in dieser Profession fand, schrieb er Romane über den Sportreporter Bascombes und erzielt hiermit seinen Durchbruch. ('The Sportswriter', 'Independence Day' und weitere). Er gewann als bisher einziger Schriftsteller 1995 für 'Independence Day' sowohl den bedeutenden Pulitzer Preis als auch den PEN/Faulkner Award. 

Buch:

Das hier besprochene Buch erschien 2012 und wurde ebenfalls mehrfach ausgezeichnet. Seit 1989 machte sich Ford bei seinen Aufenthalten in Montana, wo diese Geschichte auch spielt, hierzu Notizen. Ein Ich-Erzähler blickt auf seine Jugendzeit zurück. Ich hatte kürzlich irgendwo eine hymnische Empfehlung gelesen. 

Hauptfiguren:

  • Dell, Icherzähler
  • Berner, seine Zwillingsschwester
  • Beverly ('Bev') Parson, sein Vater
  • Geneva ('Neeva') Kamper, seine jüdisch-polnische Mutter
  • Mildred Remlinger, eine Freundin der Mutter
  • Arthur Remlinger, ihr Bruder, lebt in Kanada
  • Florence La Blanc, seine Freundin
  • Charley Quarters, dessen Mitarbeiter auf der Ranch in Kanada

Inhalt und Rezeption:

Der Beginn der Rückblende ist sehr viel versprechend. "Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben." Und schon will der Leser wissen, wie es denn dazu wohl kommen konnte. Sein Vater war beim Militär und nach seiner Rückkehr aus dem 2. Weltkrieg wuchsen er und seine Schwester auf verschiedenen Luftwaffenstützpunkten aus. Wir lernen die Eltern kennen, die  keine gute Ehe hatten, auch weil sie sehr unterschiedlich waren. 1960 befindet sich die Familie in Great Falls, Montana. Bev hat seine Job bei der Armee verloren und hält sich mit diversen Jobs über Wasser, die er aber nie lange hat und daher schließlich illegalen Geschäften nachgeht, Neeva will sich eigentlich scheiden lassen und mit den Kindern weggehen, tut es aber nicht. Und da Bev existentielle Probleme in seinem illegalen Fleischhandel mit den örtlichen Indianers bekam, reifte der Entschluss, eine Bank zu überfallen. Der Weg dahin steht im Mittelpunkt der ersten Kapitel des Romans, die ohne allzu viel Handlung auskommt, dafür aber Betrachtungen über die Ursachen anstellt. Dann ein wirklich schönes Zitat:
"Das Getane; das Nie-Getane; das Geträumte. Irgendwann nach langer Zeit fließen sie ineinander."
Der Bankraub mit seiner Mutter als Helferin war dilettantisch vorbereitet und durchgeführt, so dass seine Eltern schnell gefasst wurden, vor den Augen der beiden Kinder. Die kurze Zwischenzeit wir aber etwas langatmig erzählt. Beiläufig erfährt der Leser, dass sich die Mutter einige Zeit später im Gefängnis das Leben nahm. Für die Zwillinge ändert sich das Leben damit abrupt. In den ersten Tagen sind sie noch alleine zu Hause und aus Dells schildert die Unsicherheit vor der Zukunft deutlich, ohne dass es schon eine ausgewachsene Angst ist. Die Zwillinge besuchen die Eltern im Gefängnis, aber viel zu sagen haben si sich in diesem Moment nicht, sie wissen es noch nicht, aber sie sehen ihre beiden Eltern nie mehr wieder. Es wirkt etwas seltsam, dass sie nicht mehr darüber sprechen, was au den beiden 15-Jährigen werden soll. 

Berner verschwindet kurz danach (vermutlich mit ihrem Freund Rudy), während Dell von Frau Remlinger nach Kanada gebracht wird, um ihn dem Zugriff des Jugendamtes zu entziehen. Das hatte seine Mutter bereits geplant, Dell soll dort bei ihrem Bruder leben. Seine ersten Eindrücke dort sind furchterregend. Er soll in dem zwielichtigen Hotel von Arthur, der wohl selbst eine kriminelle Vergangenheit hat und sich in in der kanadischen Provinz Saskatchewan quasi versteckt mitarbeiten und wird von dem zwielichtigen Charley herumkommandiert und muss auch dort wohnen, fernab der Zivilisation in einer heruntergekommenen Geistersiedlung. Das entsprechende Kapitel beginnt und endet mit einem schönen Satz:
"Ereignisse, die das ganze Leben verändern, sehen manchmal nicht danach aus."
Dell bleibt nichts anderes übrig, als sich an das neue Leben zu gewöhnen. Ford beschreibt mit großer Erzählkunst und detailreich die abgrundtiefe Tristesse des Ortes. Nach ein paar Wochen zieht er in das Hotel in eine Abstellkammer und wird von Arthur und seiner Freundin fast wie ein eigenes Kind anerkannt. Aber Dell beginnt eine unspezifische Vorahnung zu bekommen, dass irgendetwas Schlimmes passieren könne. Und er erfährt von Charley über Arthurs Vergangenheit, er hatte als Harvard Student einen Bombenanschlag mit Todesfolge auf ein Gewerkschaftsgebäude verübt. Nun kommen zwei Amerikaner (Privatdetektive?) in das Hotel, offenbar, um Arthur zu befragen und die Tat von damals aufzuklären. Es kommt zum Showdown, Arthur nimmt Dell mit zu dem Treffen, um ihn als seinen Sohn auszugeben, quasi als Schutzschild. Am Ende ermordet Arthur die beiden und Dell muss helfen, die Leichen zu begraben. Interessanter als die reine Handlung sind die inneren Monologe, die Dell führt, um das Geschehen zu verstehen und zu verarbeiten.

Um die Geschichte abzurunden sei der Rest kurz zusammengefasst. Dell wird von Florence zu ihrem Bruder nach Winnipeg geschickt, wo er zur Schule gehen konnte. Der Rest wird aus heutiger Perspektive erzählt, 51 Jahre später. Dell ist Lehrer, hat die kanadische Staatsangehörigkeit angenommen und seine Schwester nur noch dreimal gesehen, ein letztes Mal kurz vor ihrem krebsbedingten Tod. Ein überaus melancholisches Treffen am Ende ihrer gemeinsamen 'Reise' und am Ende des tollen Buches.

Lesespaßfaktor:

Die Sprache ist süffig, leicht zu lesen. Die Erzählung schreitet langsam voran, sie speist sich aus Tagebuchaufzeichnungen der Mutter sowie alten Zeitungsartikel und natürlich dem Gedächtnis des Ich-Erzählers. Ford zieht den Leser in seinen Bann, man will weiterlesen. Vor allem ist es eine schöne Beschreibung des Lebens in den Weiten Montana und Saskatchewans in den 1960er Jahren. Auf die kleinen Unterschiede bzw. auf die gegenseitigen Vorurteile der beiden Ländern geht Ford immer mal wieder ein. Und es gibt viele schöne Sprachbilder, die gut übersetzt sind, etwa: "Die unvermeidliche Nordwärtsdrift von allem.", was auf die amerikanischen Einflüsse auf Kanada zielt. Für mich 4 Sterne mit einer Tendenz nach oben.

Montag, 6. November 2023

Salman Rushdie - Die Satanischen Verse

 

Autor:

Salman Rushdie wurde 1947 in Bombay als Sohn muslimischer Eltern geboren. Als Jugendlicher schickte ihn der Vater nach England zur Schule, wo er dann auch studierte.
Rushdie erlangte sehr fragwürdige Berühmtheit, als 1998 nach Veröffentlichung eben dieses hier zu besprechenden Buches der damalige iranische Diktator Chomenei eine Fatwa (Todesurteil) verhängte, da angeblich in dem Buch der Prophet Mohammed verunglimpft wird. Seitdem lebte er lange im Untergrund unter polizeilicher Bewachung und erst dieses Jahr gab es einen Mordversuch in den USA, wo er heute hauptsächlich lebt, der ihm ein Augenlicht kostete.
Seinen literarischen Durchbruch hatte Rushdie aber bereits 1981 mit dem Roman 'Mitternachtskinder', heute gilt er seit Jahren als ein Kandidat für den Nobelpreis und einige Kommentatoren werfen der schwedischen Akademie vor, aus Angst vor islamistischer Rache auf die Vergabe zu verzichten. Insgesamt 15 Romane wurden bisher veröffentlicht.
Anlässlich des eines Terroranschlages in Paris (Charlie Hebdo) sagte er: „Religion, eine mittelalterliche Form der Unvernunft, wird, wenn sie mit modernen Waffen kombiniert wird, zu einer echten Gefahr unserer Freiheiten. Derartiger religiöser Totalitarismus hat zu einer tödlichen Mutation im Herzen des Islams geführt und wir sehen heute die tragischen Folgen in Paris.“
Rushdie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, ganz aktuell den bedeutenden Friedenspreis des deutschen Buchhandels.