Samstag, 14. September 2024

Giovanni di Boccaccio - Das Dekameron

 

Autor:

Boccaccio wurde im frühen 14. Jahrhundert in Certaldo bei Florenz geboren, wo er auch 62 Jahr später verstarb. Die Mutter verstarb früh, sein Vater war Bankangestellter. So wurde er auch nach Neapel geschickt, um in der dortigen Niederlassung der Bank eine kaufmännische Lehre zu machen. Aber bereits dort begann seine Leidenschaft für die Literatur und er lernte die höfische Lebensweise und verfasste dort eines der ersten Prosawerke überhaupt. Zurück in Florenz arbeitete er in verschiedenen Berufen im bürgerlichen Umfeld. Und dort schrieb er auch das hie zu besprechende Werk und er freundete sich mit dem Schriftsteller Petrarca an. Seine Biografie von Dante entfachte eine neue Begeisterung für den Autor der 'Göttlichen Komödie'. 


Buch:

Diese Sammlung von 100 Novellen entstand in den Jahren 1349 bis 1353, unmittelbar nachdem eine schwere Pestepidemie in Florenz und vielen anderen Teilen Europas gewütet hatte. Inspiriert von seinen eigenen Erfahrungen während der Pest sowie von zahlreichen Volkserzählungen und Sagen schrieb er diese kurzen Geschichten. Literarisch gilt dieses Werk der Renaissance als das erste bedeutende Prosawerk überhaupt. In einem Kanon der zu lesenden Literatur der Universität der Universität Tübingen ist es entsprechend gelistet und nach Jahren des Schlummerns in meinem Bücherregal gehe ich die Lektüre nun erstmals an.

Hauptfiguren:
  • keine, die 10 Erzähler*Innen dienen nur der Rahmenhandlung
Inhalt und Rezeption:

Diese Rahmenhandlung spielt in einem Landhaus bei Florenz, Dorthin sind sieben Frauen und drei junge Männer vor der Pest (Schwarzer Tod) geflüchtet, die im Frühjahr und Sommer des Jahres 1348 Florenz heimsuchte. Um sich dort zu unterhalten, wird 10 Tage lang täglich eine Königin oder ein König aus der Gruppe bestimmt, die oder der einen Themenkreis vorgibt. Zu diesem Themenkreis hat sich nun jeder der Anwesenden eine Geschichte auszudenken und zum Besten zu geben. Jeder Tag wird mit dem Singen einer Kanzone beendet. Nach zehn Tagen und zehn mal zehn Novellen kehrt die Gruppe wieder nach Florenz zurück.

Ich will hier nicht alle 100 Novellen inhaltlich zusammenfassen, sondern versuchen, die Leitthemen zu erkennen, die sich in den meist recht kurzen Geschichten finden. Es geht um:

  • moralische Prinzipien, geizige Menschen werden von ihrer schlechten Eigenschaft geheilt, Lügen haben kurze Beine
  • gutgläubige Geistliche, die etwa durch durch einen beichtenden Heuchler getäuscht werden 
  • religiöse Toleranz, auch das Judentum weist viel Weisheit auf
  • Glücksgöttin Fortuna hilft sehr oft
  • Vermögen können gewonnen werden, aber auch zerrinnen und dann meistens schicksalhaft wiedergewonnen werden
  • viele Frauen sind so schön, dass sich die Männer immer sofort unsterblich in sie verlieben; etwas Rosamunde Pilcher des Mittelalters, nur in schönerer Prosa ("...; und während er seinen Wünschen durch ihren Anblick Genüge zu tun glaubte, tranken seine Augen bei ihrer Betrachtung unversehens das Gift der Liebe, so daß er sich selber elendiglich verstrickte und sich glühend in sie verliebte.")
  • viele Männer sind edelmütige Ritter und überaus schön, die meisten Frauen aus bestem Hause und ebenfalls fast alle bezaubernd schön
  • Beziehungen über Standesgrenzen hinweg werden nicht gerne gesehen
  • Immerhin werden Vorurteile, etwa über die moralische Überlegenheit des Mannes gegenüber der lasterhaften Frau ironisch aufs Korn genommen
  • Untreue Ehefrauen will man im Mittelalter bekanntlich schon einmal ermorden lassen
  • auch Nonnen im Kloster können Lust empfinden, überhaupt sündigen gerade auch Geistliche gerne und häufig
  • die Liebe lässt sich nicht unterdrücken, selbst wenn dem Sohn eines Einsiedlers, der bis zu seinem 18. Lebensjahr nie eine Frau gesehen hat, und dem, als er dann eine sieht, gesagt wird, es handelt sich um eine Gans, will dann die Gans mitnehmen und füttern, weil sie so schön sein, sic!
  • hin und wieder dürfen auch Diener oder Hausangestellte mal verschlagen  und klug sein
  • mit Nebenbuhlern geht man nicht zimperlich um
  • eine Frau ist schon einmal "zuckriger als Lebkuchen"
  • ein vorgetäuschtes Fegefeuer kann Eindruck machen 
  • ein Mann schläft schon einmal mit einer Frau und merkt nicht, dass es eine andere ist als er dachte
  • religiöse Verrenkungen werden gemacht, um sexuelles Verhalten zu rechtfertigen
  • Mord aus Eifersucht ist auch immer mal ein probates Mittel
  • eine liebende Frau trennt schon einmal den Kopf ihres ermordeten Geliebten ab und packt ihn in einen Blumentopf, Gewalt wird trivialisiert
  • Entführungen und Morde sind ebenfalls ein probates Mittel, um Geliebte zu bekommen
  • Ehemänner sehr schöner Frauen lassen sich gerne Hörner aufsetzen
  • Eifersucht betrifft nur die Männer und dann lassen sie sich noch von den Frauen an der Nase herumführen, damit diese ihre Lust mit einem Geliebten befriedigen können
  • Frauen werden als sehr triebgesteuert dargestellt, daher ist Ehebruch meist entschuldbar
Um aber einmal einen Eindruck von so einer Novelle zu bekommen, sei hier beispielhaft die 3. Geschichte des 7. Tages skizziert.

In Siena gibt es einen hübschen Jüngling aus wohlangesehenem Geschlecht, der in eine sehr schöne, aber verheiratete Frau eines reichen Mannes verliebt war. Um ihr näher zu kommen bietet er sich dem Ehemann als Taufpate (=Gevatter) ihres Sohnes an und entdeckt der Angebeteten seine Liebe. Die weist ihn zurück, er wird Mönch. Es folgt eine lange Lästerung über Mönche im allgemeinen ("Sie schämen sich nicht, ihr strotzendes Fett zur Schau zu tragen, ihre geröteten Gesichter und die Üppigkeit ihrer Kleider ... die Lästerung geht in einem Satz über eine halbe Seite). Aber auch als Mönch kehrt er zu seiner Geliebten zurück, die ihn schließlich aufgrund allerlei banaler Argumente erhört. Eines Tages jedoch platzt der Ehemann während der Zusammenkunft herein. Die Frau redet sich heraus, indem sie dem naiven Ehemann erklärt, der Mönch habe ihren gemeinsamen Sohn von einer schweren Krankheit geheilt und ihm damit das Leben gerettet. Und dieser Mönch gebietet dem Vater noch, ein großes Wachsbild zu Ehren Gottes zu sponsern. 

Lesespaßfaktor:

Die heilige Zahl 10 spielt hier eine ähnliche Rolle wie bei Dante, der in seiner 'Göttlichen Komödie' 100 Gesänge gedichtet hat. Pro Tag und damit pro 10 Novellen wird ein Rahmenthema gesetzt, etwa Geschichten über die Glückseligkeit von Liebenden oder über Streiche, die sich Liebende gegenseitig spielen. Viele dieser Geschichten klingen oft wie biblische Gleichnisse oder Märchen, eine Geschichte endet so: „…, und er lebte in Paris in höhern Ehren als je bis zu seinem Tode.“ Die Geschichten gehen fast immer zuckersüß gut aus und erinnern an Opernlibretti, nur manchmal aber auch -je nach Thema- enden sie dramatisch im Selbstmord.

Die Sprache aber ist wirklich ganz wunderbar, wenn man das Alter der Texte bedenkt, gleichzeitig merkt man aber auch deutlich das Alter der Texte im Vergleich zur Gegenwartssprache. Warum das Buch zeitweise auf dem Index in vielen Länder stand, ist aus heutiger Sicht überhaupt nicht mehr nachzuvollziehen, explizite Sexualität wird jedenfalls gar nicht beschrieben, es gibt nur vage Andeutungen, alles andere findet dann alles im Kopf des Lesers statt; es klingt dann etwa so: "Und da seine Begierden bei dieser Stellung, als er sie so schön sah, immer brünstiger wurden, so kam die Auferstehung des Fleisches;..."

Dass Humor sich im Laufe der Jahrhunderte deutlich verändert, das spürt man an den vermeintlich humorvollen Geschichten des 6. Tages, die sind aus heutiger Sicht nicht mehr lustig. Immerhin wird den Frauen in den Geschichten durchaus Intelligenz, manchmal auch Verschlagenheit und Listigkeit zugetraut, während die Männer oft die eifersüchtigen Deppen sind, das ist für das 14. Jahrhundert durchaus eine Errungenschaft.

Ich gebe zu, dass ich nach der Lektüre der ersten 70 Novellen erst einmal eine Pause mache, in der deutlichen Erwartung, dass meine Einschätzung des Konvoluts an Erzählungen sich durch die letzten 30 Geschichten nicht mehr ändert. Es ist große Literatur mit dem Blick aus dem 21. auf das 14. Jahrhundert. Sie eignen sich meines Erachtens nach eher dazu, jeden Tag eine als kleine Erheiterung zu lesen als sie am Stück als ein Stück Literatur zu lesen.

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