Montag, 25. Oktober 2021

Siegfried Lenz - Deutschstunde

 

Autor: 

Siegfried Lenz wurde 1926 in Ostpreußen geboren. Nach seiner Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft studierte er Philosophie und Literaturwissenschaften. Ab 1948 publizierte er Kurzgeschichten, sein erster Roman folgte 1951. Lenz war Mitglied des Literatenzirkels "Gruppe 47". Der hier vorgestellte siebte Roman war sein literarischer Durchbruch, der ihm den heutigen Status als einer der wichtigsten Autoren der Nachkriegszeit einbrachte. Insgesamt verfasste Lenz 15 Romane und mehr als 100 Kurzgeschichten, Theaterstücke und Essays. Er starb im Jahr 2014.


Buch:

In der Schule habe ich im Deutschunterricht Siegfried Lenz kennengelernt, allerdings mit seinem 1981 erschienenen Roman "Der Verlust", eines der wenigen zeitgenössischen Werke, die wir in der Schule besprochen haben. Obwohl es mir wirklich gut gefallen hat, habe ich bisher keine weiteren Romane von ihm gelesen, so dass es nun Zeit ist, sich einem seiner erfolgreichsten Bücher zu widmen, in dem es um die Verquickung von Schuld und Pflicht im Nationalsozialismus geht. Das Werk erschien 1968 und war viele Wochen auf Platz 1 der deutschen Bestsellerliste.

Hauptfiguren:

Siggi Jepsen, Inhaftierter in einer Jugendstrafanstalt
Jens Ole Jepsen, sein Vater
Gudrun Jepsen, seine Mutter
Hilke, Siggi's Schwester
Klaas, Siggi's Bruder
Karl Joswig, Lieblingswärter in der Anstalt
Doktor Julius Korbjuhn, Deutschlehrer in der Jugendstrafanstalt
Direktor Himpel, Leiter dieser Anstalt
Max Ludwig Nansen, Maler
Ditte, seine Frau
Doktor Theodor Busbeck, Galerist und Freund des Malers
Wolfgang Mackenroth, Psychologe


Inhalt und Rezeption:

Siggi Jepsen muss in der Jugendstrafanstalt eine Strafarbeit schreiben, weil er im Deutschunterricht bei einem Aufsatz zum Thema "Die Freuden der Pflicht" ein leeres Heft abgegeben hat, da ihm zu viel zu diesem Thema einfiel, so dass er keinen Anfang für den Aufsatz mehr fand. Nun sitzt er isoliert in seinem Zimmer und muss diese Arbeit nachschreiben.

Was ihm nämlich einfiel, das ist eine Geschichte aus dem Jahre 1943, in dem sein Vater, ein Dorfpolizist, widerwillig das verhängte Malverbot gegen den Maler Max Ludwig Nansen übermitteln und anschließend überwachen musste. Der damals 10-jährige Siggi fuhr zusammen mit seinem Vater mit dem Fahrrad raus zum Haus von Max, um die schlechte Botschaft zu überbringen. Dabei verbindet seinen Vater und Max eine alte Geschichte aus der Kindheit, als nämlich Max ihn vor dem Ertrinken gerettet hat. Und entsprechend schwer fällt es Jens Ole, diese Botschaft zu überbringen. Der innere Widerwille, diese Pflicht erfüllen zu müssen, wird in der zögerlichen Haltung des Polizisten deutlich.

Die nächste Erinnerung bezieht sich auf das das Möweneiersammeln seiner Schwester und ihres Verlobten, dem Siggi beiwohnte. Intensiv beschreibt Lenz hier den Kampf mit den Möwen, die ihre Eier schützen wollen. Auf der Flucht vor einem Gewitter flüchten die drei in die Hütte des Malers am Strand. Dort erscheint plötzlich auch sein Vater, bringt ihn nach Hause und verprügelt ihn dort vor den Augen der Mutter, allein dem Leser wird zunächst nicht klar, warum eigentlich, schließlich wird der Grund doch noch genannt, nämlich, dass er bei Gewitter zu Hause zu sein habe. Das ist aber irgendwie ein schwacher Grund für eine solche Strafe. Interessant wird aber hier der Vater charakterisiert: 
"Mein Vater. Der ewige Ausführer. Der tadellose Vollstrecker."
Und der Vater verpflichtet dann Siggi, der einen guten Draht zu Max hat, um das Malverbot zu überwachen.

Auf der Geburtstagsfeier von Busbeck schenkt Max ihm eines seiner Bilder. Auf eben dieser Feier ist aber auch Jens Ole anwesend und verlangt von Max die Umsetzung seines Befehls, alle Bilder der letzten beiden Jahre zu konfiszieren. Als Addi während der Feier einen Anfall erleidet, treibt seine Mutter Siggi nach Hause, um die Sachen von Addi zu packen, damit er ihr Haus verließe, da "man keinen Kranken in der Familie brauche". Die Haltung der Mutter wird erstmals deutlich.

Eines Abends erscheint Klaas zu Hause. Er ist aus einem Gefangenenlazarett ausgebrochen, in das er nach seiner Selbstverstümmelung eingeliefert worden war, und nun soll Siggi ihn verstecken, tut dies in einer verfallenen Mühle; und er darf den Eltern nichts sagen. Als die Mutter durch Soldaten von dem Ausbruch des Sohnes erfährt, hält sie ihren eigenen Sohn für einen Schwächling und würde ihn aus Pflichtgefühl und Verachtung sofort ausliefern, wenn er daheim auftauchte, auch ihren Mann drängt sie dazu. Siggi bekommt das mit und hilft Klaas, sich bei dem Maler zu verstecken. 

Im Krieg war es notwendig, dass abends alle Häuser verdunkelt werden mussten. Eines Abends aber sieht Polizist Jens Uwe Licht im Hause des Malers, er fährt dorthin und sieht, dass dieser an einem Bild malt, welches auch noch seinen Sohn Klaas zeigt. Er übt wieder seine Pflicht aus und informiert Max, dass er Anzeige erstatten muss wegen beider Vergehen. Max zerstört vor den Augen des Polizisten das Bild. Er ist verärgert ob Jens Oles Pflichterfüllung ("Pflicht, das ist für mich nur blinde Anmaßung."). Ein letzter Versuch, die alte Vertrautheit wiederherzustellen scheitert. Jens Ole hingegen bedauert die Widerborstigkeit seines (ehemaligen) Freundes ("Ich meine, eine Freundschaft, die ist doch auch kein Freibrief für alles."). Und auch die Einstellung seiner Frau wird noch deutlicher: "Wenn man sich so ansieht, welche Leute er malt: die grünen Gesichter, die mongolischen Augen, diese verwachsenen Körper, all dieses Fremde: da malt doch die Krankheit mit. Ein deutsches Gesicht, das kommt bei ihm nicht vor."

Bei einem Tieffliegerangriff über dem Moor wird Klaas schwer getroffen, man bringt ihn dann doch zu seinem Elternhaus. Wieder ist der Vater zwiegespalten, entscheidet sich aber für seine Pflicht, seinen eigenen entflohenen Sohn melden zu müssen, er wird dann abgeholt und der Leser erfährt erst viel später, was aus ihm geworden ist.

Die Überwachung des Malverbotes nimmt Siggis Vater sehr ernst, ist dann aber empört, als er zwar eine Mappe mit Bildern findet, diese aber alle unfertig sind. Er vermutet nun die Absicht, ihn hinters Licht führen zu wollen, was ihn aber eher anstachelt, jetzt erst recht etwas zu finden.

In der zeitlichen Gegenwart der Geschichte erhält Siggi Besuch von seinem Psychologen Mackenroth, der ihm das Weiterschreiben an seiner Strafarbeit genehmigt und ihm gleichzeitig ein Kapitel aus seiner Diplomarbeit überlässt, die seinen Fall behandelt. Darin erfährt der Leser erstmals einige Details über die Kindheit Siggis, zusammengetragen aus Interviews, die Mackenroth mit der Familie und Nachbarn geführt hat.

Im Jahr 1943 verstirbt Ditte, ausführlich wird die Beerdigung beschrieben. Als Jens Ole dem Maler kondoliert, lädt der ihn provozierend ein, sich die letzten von ihm gemalten Porträts seiner Frau anzuschauen.

Der Krieg nähert sich seinem Ende. Während des Schulunterrichtes tauchen englische Soldaten auf und verkünden das Ende des Krieges. Aber Siggis Vater ruft in seiner Funktion als Dorfpolizist noch einen Volkssturm zusammen, der aber nichts ausrichten kann. Als Max die kleine Gruppe abends verlassen will, um zu Hause zu übernachten, droht die Situation noch zu eskalieren, tut es letztlich aber nicht. Schließlich wird Jens Ole von den Engländern verhaftet, seine Frau steckt ihm noch ein Messer zu.

In der nun folgenden Nachkriegszeit geht es um die Bewältigung der Vergangenheit, um das Vergessen, um das Verdrängen und um das Vergeben. Siggis Vater kehrt drei Monate nach seiner Gefangennahme wieder und nimmt seinen alten Posten wieder ein. Klaas taucht wieder auf, will aber von seiner Eltern nichts mehr wissen. Diese auch nichts von ihm, sie verzeihen ihm seine Pflichtverletzung im Krieg nicht. Jens Ole bleibt seinem Pflichtbewusstsein treu, auch wenn sich die Zeiten geändert haben. Er verbrennt ein Skizzenblock von Max, Siggi erwischt ihn dabei, der Bruch zwischen Vater und Sohn 
wird immer deutlicher. 

Als die alte Mühle, in der Siggi seinen diversen Sammelleidenschaften frönte, abbrennt und er vermutet, dass sein eigener Vater der Brandstifter war, beginnt bei Siggi eine Art Zwangsneurose, er will alle möglichen Bilder vor dem Untergang retten. Wieder nur indirekt über en weiteres Kapitel der Diplomarbeit seines Psychologen Mackenroth erfährt der Leser, dass Siggi danach anfing, Bilder zu stehlen, von Max, aber auch aus Museen in der Umgebung. Das fällt natürlich irgendwann auf und ist dann auch der Grund, warum er in einer Besserungsanstalt einsitzt. Konkret wird er nach einer Vernissage von Max in Hamburg, von der er noch flüchten kann, bei seinem Bruder Klaas aufgegriffen. 

Das Buch endet mit zwei Kapiteln, die in der Besserungsanstalt spielen und zum einen den Beginn von Siggis Aufenthalt beschreiben und zum Schluss das Ende, als ihm mitgeteilt wird, dass seine Strafarbeit nun zu Ende sei und er in einigen Tagen die Insel wird verlassen können, es solle sich doch überlegen, was er dann machen wolle. Das aber ist gar nicht so einfach, er ist ziemlich allein, von den Eltern entfremdet, von den beiden Geschwistern auseinandergelebt.


Lesespaßfaktor:

Lenz ist ein Meister in der Darstellung der norddeutsche Stimmung, die oft sehr feingliedrig eingefangen wird. Das Buch weist zahlreiche zeitliche Sprünge zwischen der Gegenwart im Jahre 1954 in der Besserungsanstalt und der Vergangenheit der Jahre 1943ff. auf, die aber ganz gut nachvollziehbar sind. Die Geschichten takten langsam mit langen Deskriptionen, die gelegentlich etwas ermüdend für den Leser sind.

Warum sitzt Siggi in einer Besserungsanstalt? Dies wird erst ganz zum Schluss deutlich. Die Geschichte wird überwiegend aus der Perspektive des Ich-Erzählers (Siggi) erzählt, über ihn selbst und sein Leben erfährt man dann aber Näheres erst spät aus der Diplomarbeit seines Psychologen Mackenroth, der sich ebendort mit der Geschichte von Siggi befasst hat, die ihn in die Besserungsanstalt gebracht hat.

Die zwanzig Kapitel sind meist deutlich voneinander abgegrenzt. Einzelne Geschichten außerhalb des roten Erzählfadens sind immer wider eingeflochten, diese wirken aber oft wie ein Fremdkörper, an diesen Stellen wünschte ich mir mehr Fokus, in anderen Worten, das Buch hätte auch gerne etwas gestraffter und damit kürzer ausfallen können. 

Immer wieder geht es um die Pflicht, verstärkt zu Kriegszeiten, aber auch noch in den Jahren danach. Lenz kritisiert die starre widerspruchslose Ausübung derselben in der Figur des Vaters und des Schadens, den dieser damit anrichtet, vor allem bei seinen Kindern. Und immer wieder setzt sich der Autor mit dem künstlerischen Schaffensprozess auseinander.

Das Buch ist für mich große Literatur mit ein paar Längen.


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