Donnerstag, 4. Dezember 2025

Robert Musil - Der Mann ohne Eigenschaften

 

Autor:

Musil (1880 - 1942) war ein österreichischer Schriftsteller und Theaterkritiker. Seiner Lebenszeit entsprechend war sein Schaffen geprägt durch den 1. Weltkrieg sowie die Errichtung der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und Österreich. Geschrieben hat er Novellen, Dramen, Essays, Kritiken und zwei Romane, 1906 'Die Verwirrungen des Zöglings Törleß' und eben dieses zur Weltliteratur zählende Hauptwerk, das von autobiographischen Aspekten mitbestimmt ist  und an dem Musil seit den 1920er Jahren bis zu seinem Tode fortlaufend gearbeitet hat, ohne es abschließen zu können. Er war interessiert sowohl an natur- als auch an zahlreichen geisteswissenschaftlichen Themen wie etwa Psychologie, er war Offizier im 1. Weltkrieg, studierte Maschinenbau. Zu Beginn der Naziherrschaft lebte er mit seiner jüdischen Frau in Berlin, und wanderte 1933 erst nach Karlsbad aus, ging dann nach Wien, um nach dem Anschluss an das deutsche Reich 1938 in die Schweiz zu emigrieren. 

Buch:

Ich habe einmal gehört, dass Musils opus magnum zu den Werken gehört, die viele Menschen besitzen, aber nie lesen. Das triggert mich natürlich, es selbst doch einmal zu versuchen. Auch dass es unter großen finanziellen Schwierigkeiten in problematischen Zeiten entstanden ist, der erste Teil schließlich 1930 erschien und das ganze Werk gar nicht vollendet ist, trägt bestimmt zum Mythos bei. Das Buch gehört zu den bedeutendsten Romanen des 20. Jahrhunderts.


Hauptfiguren:
  • Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, 32 Jahre alt, Mathemtiker
  • Leontine „Leona“, seine Freundin, Liedsängerin
  • Bonadea, seine Geliebte, Ehefrau eines Richters
  • Agathe, seine Schwester
  • Walter, Jugendfreund und Clarisse, seine Frau (25)
  • Se. Exzellenz Graf Stallburg, Freund von Ulrich's Vater
  • Se. Exzellenz Graf Leinsdorf, dessen Freund
  • Ermelinda ‚Hermine’ Tuzzi, Ulrich‘s Cousine, auch Diotima genannt
  • Hans ‚Giovanni‘ Tuzzi, Sektionschef, ihr Ehemann
  • Rachel, ihre Dienerin
  • Dr. Paul Arnheim, preußischer Freund von Hermine
  • Soliman, sein Diener (Negersklave)
  • Direktor Leo Fischel, jüdischer Prokurist einer Bank, auch Mitglied des Projektes
  • Klementine, seine Frau (aus adliger Familie)
  • Gerda, ihre gemeinsame Tochter, frühere Geliebte von Ulrich,
  • Hans Sepp, ihr Freund
  • von Meier-Ballot, Gouverneur der Staatsbank
  • Generalmajor Stumm von Bordwehr, Offizier im Kriegsministerium
  • Gottlieb Hagauer, Schuldirektor und Agathes Ehemann
  • Lindner, ein Lehrer und Dozent
Inhalt und Rezeption:

Erstes Buch:

Erster Teil: Eine Art Einleitung

Im August 1913 in Wien. Ein Lastwagen überfährt einen Fußgänger. Der Mann ohne Eigenschaften ist in seiner Wiener Wohnung, einem alten, kleinen Schloss und tut eigentlich nichts. ("...und man könnte ermessen, welche ungeheure Leistung heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut."). Was ist denn ein Mann ohne Eigenschaften? Ein Mann, der sich selbst gegenüber keinen Wirklichkeitssinn aufbringt (sondern eher einen Möglichkeitssinn, es könnte nämlich auch alles anders sein). Ulrich wurde als Kind nach einem despektierlichen Aufsatz zum Thema österreichischer Vaterlandsliebe von seinem gesellschaftlich ehrbaren Vater in ein Internat nach Belgien geschickt, mit 32 Jahren kehrt er nach einigen Wanderjahren zurück nach Wien.

Seine Lebensgefährtin Leona wird mit herrlich ironischem Unterton vorgestellt. („…, und ihr Besitz erschien ihm begehrenswert wie der eines vom Kürschner ausgestopften großen Löwenfells.“). Nach einer Schlägerei wird er verletzt von der verheirateten Bonadea heimgebracht, die seine Geliebte wird. In kleinen Rückblicken wird erzählt von Ulrichs kurzer, aber unerfüllter Zeit beim Militär, bevor er die Mathematik für sich entdeckte. Er beginnt, seinen alten Jugendfreund Walter und seine Frau Clarisse zu besuchen, er will offenbar vergeblich musikalisch reüssieren will. An die gemeinsame Jugend denkend, betrachtet Ulrich die gesellschaftlichen Veränderungen, ein wenig hadert er mit ihnen, schön geschrieben und brandaktuell. Walter hingegen ist eifersüchtig auf ihn und versucht vergeblich, ihn Clarisse gegenüber schlecht zu machen. 

Berichtet wird über einen Mordprozess, ein brutaler Mord an einer Prostituierten, der Ulrich bewegt und im weiteren Verlauf des Buches wird auf diesen psychologischen Kriminalfall immer wieder rekurriert und gefragt, wo fängt Unzurechnungsfähigkeit eigentlich an? Und der Vater fordert ihn auf, in einem Komitee mitzuarbeiten, das in einigen Jahren das Thronjubiläum des österreichischen Kaisers vorbereiten soll. Das soll ihm dann endlich die väterlich gewünschte gesellschaftliche Anerkennung bringen. 

Zweiter Teil: Seinesgleichen geschieht

Ulrich geht tatsächlich in die Hofburg zu Stallburg und wird Mitarbeiter bei der so genannten Parallelaktion, bei der das 70 jährige Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph I, das aber erst in fünf Jahren stattfindet, vorbereitet werden soll und vor allem großartiger werden soll als das im gleichen Jahr stattfindende des deutschen Kaisers Wilhelm II und es soll quasi der Geist der österreichischen Heimat gefunden werden. Er besucht ebenfalls auf Wunsch seines Vaters seine Cousine, über deren Entwicklung zu einer geistigen, schönen Frau im folgenden erzählt wird und die durch ihre Freundschaft zu Leinsdorf ebenfalls an der Parallelaktion teilnimmt, deren Mittelpunkt ihr Salon darstellt. 

Die Beziehung zu Bonadea geht in die Brüche, Ulrich hatte sie gefragt, ob sie sich aufgrund der außerehelichen Beziehung nicht schuldig fühlen würde, schien aber auch froh, dass sie daraufhin Schluss machte. Auf der Straße trifft er Fischel, der von ihm wissen will, was das Adjektiv ‚wahr‘ im Zusammenhang mit der Parallelaktion bedeuten soll, genauer den Begriffen Vaterlandsliebe, Österreich und Fortschritt? Was natürlich nicht zu beantworten ist. Ein kurzer kafkaesker Moment: durch eine unbedachte Äußerung gegenüber einem Polizisten wird er kurz inhaftiert und gar dem Polizeipräsidenten vorgeführt, der glücklich darüber ist, denn Graf Leinsdorf hatte ihn gerade um die nicht öffentlich bekannte Adresse von Ulrich gebeten, denn dieser wurde nun zum offiziellen Sekretär der Parallelaktion ernannt.

Die erste Sitzung des Komitees findet statt, auf der allerlei patriotisches Geschwätz stattfindet. Schön, wie Musil dem eine Pseudobedeutung und-schwere beimisst. Die Teilnehmer faseln dummes Zeug und wissen in Wirklichkeit gar nicht, was nun der darzustellende Patriotismus überhaupt ausmacht. Sowohl im Hause Tuzzi als auch bei den Fischels kommt es zu Beziehungsproblemen, einmal weil die Frau zu viel Zeit mit Arnheim verbringt, das andere Mal, weil die Ehefrau andere Ansprüche an ihren Mann hat und auch weil zunehmender Antisemitismus die Ehe vergiftet. 

Die Parallelaktion nimmt Fahrt auf, aber es passiert gar nichts Konkretes, alles geht in unspezifischen Unterausschüssen seinen unklaren Weg. Bonadea kommt zu Ulrich, will ihn zurück und irgendwie mitmachen bei der Parallelaktion. Und es wird beleuchtet, wie unterschiedlich Ulrich und Arnheim sind, beide mit Diotima in einer Art Beziehung verbunden, die sich gegenseitig aber nicht ausstehen können. Und auch Diotima wird Ulrich‘s Verworrenheit seiner Gedanken fremd. Clarisse kommt zu ihm und bittet um Unterstützung für ihren Vater, erzählt Ulrich aber auch von einer intimen Szene, die sie vor Jahren mit ihrem Vater hatte, auch wenn es nicht zur Vereinigung kam. Ulrich besucht Gerda auf Wunsch deren Mutter, er soll sie aus den antisemitischen Kreisen ihrer jungen Freunde entreißen. 

Durch Diotimas Engagement in der Parallelaktion entfremdet sie sich von ihrem Mann, der als Beamter mit den unkonkreten Zielen dieses Projektes nichts anfangen kann und eifersüchtig ist auf Arnheim. Verwunderlich ist, wie Soliman dargestellt wird, alle Vorurteile über Schwarze enthaltend, das würde heute so nicht mehr geschrieben werden können. Schön, wie General Stumm beschrieben wird, der zivilisierte Militär im kulturellen Kreis der Aktion. Ulrich bewegt sich in den vielen Treffen immer mit einer ironischen Distanz, die Diskussionen findet er leer und zu vergeistigt. Und er wundert sich, dass Tuzzi dieses in seinem Haus geschehen lässt. 

Bei einer Unterhaltung mit Diotima konfrontiert Ulrich seine Cousine mit ihrer Beziehung zu Arnheim, der Leser erfährt, dass dieser ihr sogar die Heirat angetragen hat. So schwankt das Buch immer wieder zwischen der großen, gesuchten Idee für die österreichische Monarchie und den kleinen Gedanken, die die einzelnen Protagonisten umtreibt. Aber auch zwischen den beiden knistert es durchaus. Bei einem Besuch bei Gerda erfährt Ulrich von ihrem Mann, dass es nun eine Gegenbewegung zur Parallelaktion geben wird, die den gemeinsamen deutschen Geist in dem Mittelpunkt des Thronjubiläums stellen will, um der Verslawung Österreichs entgegenzuwirken. 

Die zwischenmenschlichen Beziehungen blühen: Rachel und Soliman kommen einander näher, in der Ehe von Clarisse und Walter kriselt es heftig, sie wirft ihm vor: „Statt selbst etwas zu leisten, möchtest du dich in einem Kind fortsetzen.“ Gerda eilt zu Ulrich, um ihm eine Erkenntnis ihres Vaters weiterzuleiten, wonach Arnheim es weniger auf Diotima als auf die galizischen Ölfelder abgesehen habe. Dieser glaubt zunächst, sie sei nur gekommen, um ihm wieder ihre Liebe zu gestehen, der Versuch mit ihr zu schlafen scheitert grotesk an einem hysterischen Anfall Gerdas. 

Intensiver wird das Verhältnis von Ulrich zu Arnheim beleuchtet, das beidseitig ambivalent ist und zwischen Anerkennung und Konkurrenz schwankt, immerhin bietet Arnheim Ulrich einen Job in seinem Unternehmen an, den er aber nicht annehmen will. Als er an diesem Abend nach Hause kommt, erfährt er, dass sein Vater gestorben ist, was ihn genauso kalt lässt wie der Besuch von Clarisse, die von ihm ein Kind will und nicht von ihrem Ehemann.

Zweites Buch

Dritter Teil: Ins Tausendjährige Reich (Die Verbrecher)

Ulrich reist in seine Geburtsstadt zur Beerdigung seines Vaters und trifft nach Jahren mal wieder auf seine Schwester Agathe. Sie nähern sich an, vergleichen ihre Erinnerungen. Vertrauen zwischen ihnen entsteht, Agathe bittet ihren Bruder gar um Hilfe, um ihren ungeliebten zweiten Ehemann loszuwerden. Und sie beschließen, dass sie zu Ulrich in die Stadt zieht. In Sachen Parallelaktion wird Ulrich nach seiner Rückkehr von General Stumm über die neuesten Entwicklungen in Kenntnis gesetzt, die betreffen vor allem einen geheimen möglichen Deal zu den o.e. ukrainischen Ölfeldern mit Arnheim. Ulrich verkündet, er wolle sich aus der Aktion verabschieden. 

Seine Schwester Agathe will ihr bisheriges Leben hinter sich lassen und zu Ulrich in die Stadt ziehen. Ist sie heimlich in ihren Bruder verliebt? Jedenfalls sinniert sie über ihr bisheriges Leben, aus Angst vor der Zukunft hat sich sogar eine Giftkapsel besorgt, um jederzeit aus dem Leben scheiden zu können. Aber noch schaut sie voller Vorfreude auf den nächsten Abschnitte, ohne ihren Ehemann, denn diese Ehe will sie beenden. Ulrich seinerseits sieht die geplante Ankunft seiner ihm eigentlich fremden Schwester, sie waren nämlich nicht gemeinsam aufgewachsen, mitgemischten Gefühlen und fühlt sich dadurch bedroht, auch er denkt aber an eine verbotene geschlechtliche Beziehung. Von seiner Geliebten Bonadea trennt er sich aber schon einmal. Als Agathe dann bei ihm einzieht, führen sie viele Gespräche und lernen sich kennen und schätzen, bezeichnen sich gar als Zwillinge. 

Agathe will sich scheiden lassen, Ulrich schreibt entsprechend an ihren Ehemann Hagauer, in eine Scheidung einzuwilligen, doch das will dieser nicht. Der Leser lernt Hagauer nun etwas besser kennen, der an Agathe u.a. folgende Worte schreibt: „Du bist vielleicht das strikteste Gegenteil einer ins Leben gerichteten uns seiner kundigen Menschenart, wie ich sie selbst darstelle, aber gerade darum solltest du dich nicht leichtfertig der Stütze entäußern, die ich dir biete!“ Er verlangt, dass sie zu ihm zurückkehre, sie ist verzweifelt und denkt über Suizid nach. Als sie verzweifelt am Waldrand am Grabe eines Poeten ausharrt, der sich umgebracht hatte, trifft sie auf einen Herrn namens Lindner, ein Lehrer und Dozent, der sowohl ihren Mann als auch ihren Bruder kennt und sie aus ihrer Verzweiflung befreien möchte.

Und der Fall Moosbrugger taucht schon wieder auf. Diesmal wollen Clarisse, Ulrich und Stumm den zum Tode Verurteilten in der Psychiatrie besuchen. Genussvoll wird bei einer Besichtigung der Anstalt die Gegenwelt mit all den Verrückten dargestellt, Ekel und ein wohliger Schauer breitet sich bei den Besuchern aus, aber zum Treffen mit Moosbrugger kommt es nicht, da ein Zwischenfall den Arzt zu einem anderen Patienten ruft, vermutlich inszeniert, denn die Rechtmäßigkeit des Todesurteils will man wohl nicht durch eine Dame der Gesellschaft anzweifeln lassen. 

Zum Schluss des unvollendeten Romans geht es noch einmal um die Parallelaktion: Bei Diotima treffen sich wieder alle, diesmal erweitert um alle möglichen gesellschaftlichen Koryphäen, jeder will dabei sein, aber es kommt nicht dabei heraus, das ganze ist bloß ein Symbol dafür, dass in dieser österreichischen Gesellschaft alle dabei sein wollen, sie aber zu keinen konkreten Beschlüssen mehr fähig ist, die Personen verbergen sich hinter ihren schwülstigen Titeln und banalem Geplauder. Das mag ich  dann auch nicht mehr im Detail lesen. 

Am Ende bin ich froh, dass der Roman endlich zu Ende ist, ohne zu Ende zu zu sein, es war schon ziemlich anstrengend, da am Ball zu bleiben. Ich möchte mir nicht ausmalen, wieviel länger er geworden wäre, hätte Musil ihn beenden können.

Lesespaßfaktor:

Das Werk weist keine chronologische Handlung auf, es mäandert auf sehr vielen Seiten durch das Leben von Ulrich, einem Mann, der bedeutend werden will, aber nicht weiß, wie das anzustellen ist. Ankerpunkt ist die Jetztzeit, als er mit 32 Jahren im Wien der Vorkriegszeit (1. Weltkrieg) lebt. Musil übt Kritik an der technologieversessenen Gesellschaft und dem damit verbundenen Verlust von Menschlichkeit („…, daß die Mathematik, Mutter der exakten Naturwissenschaft, Großmutter der Technik, auch Erzmutter jenes Geistes ist, aus dem schließlich Giftgase und Kampfflieger aufgestiegen sind.“). Die Dichte schöner, wertvoller Gedanken ist immens! Aktuelle Politik der direkten Vorkriegszeit spielt immer wieder eine Rolle, dazu gehört auch die Zerrissenheit der KuK Monarchie. Aber im Mittelpunkt stehen Introspektionen der Hauptfiguren, alle fragen sich irgendwie, wer sie sind in der Welt und wie sie im Vergleich zu den Menschen in ihrer Umgebung dastehen. 

Es gibt sehr viele tolle Sprachbilder, wie dieses hier: „Als auch das vorbei war, war nichts geschehen; zurückquellendes Tagesgerede füllte die Leere aus, und die Zeit setzte Bläschen an wie ein Glas schales Wasser.“  oder dieses hier: „Sie war eines eines jener reizend heutigen Mädchen, die auf der Stelle Omnibusschaffner würden, wenn eine allgemeine Idee dies verlangte.“ Oder: „Du bist ein Mensch, der das Büchsengemüse für den Sinn des frischen Gemüses erklärt!“

Ein Stilmittel Musils ist die Ironie, manchmal schon Satire, etwa als er über die Vereinsmeierei spottet. Amüsant ist es auch, wie 1930 in gehobenen Kreisen über Sexualität philosophiert wurde. 

Aber es gibt auch zahlreiche Längen, etwa die langatmige Geschichte des verurteilten Straftäters Moosbrugger. Der heutige Leser hätte meines Erachtens nach mehr von dem Buch, wenn es deutlich kürzer wäre. Vor allem die letzten Kapitel strapazieren über die Massen die Geduld der Leser.