Sonntag, 9. August 2020

Walter Abish - "Das ist kein Zufall"

In unserer kleinen Bücherwand zu Hause sind die Bücher nach Autoren sortiert und bei meinem Plan, zumindest den Großteil der über die Jahre gesammelten Bücher zu lesen, habe ich bei dem Buchstaben A angefangen. Ich habe keine Ahnung, wie es das kleine Taschenbuch in unsere Sammlung geschafft hat, aber nun habe ich es tatsächlich gelesen.

 

Autor:

Walter Abish stammt aus einer jüdischen Familie und wurde in Wien geboren. Als Kind floh die Familie vor dem Nationalsozialismus. Abish lebte in Italien, Frankreich, China, Israel und England, bevor er 1957 in den USA sesshaft wurde. Sein wohl bekanntestes Werk aus dem Jahre 1980 heißt "How German Is It? und wurde mit dem PEN/Faulkner Award ausgezeichnet. Er wird der Postmoderne zugerechnet.


Buch:

Die 12 Erzählungen dieses Bandes entstanden zwischen 1971 und 1975 unter dem Originaltitel "Minds Meet", in deutscher Sprache erschienen sie erstmals 1982 unter dem Titel "Das ist kein Unfall" und in erster Auflage 1987 unter dem aktuellen Titel, die mir vorliegt.

Inhalt und Rezeption:

Die erste Erzählung heißt "Schaltschemen" und besteht aus vielen kleinen Kapiteln, die bis auf das erste alle den Begriff 'Botschaft' im Titel tragen. Sie lesen sich ein wenig wie kleine tägliche Kolumnen in der Zeitung und sind voller skurriler Gedanken. Vordergründig werden kleine Banalitäten des Alltags beschrieben, die allerdings von einem zum nächste Satz absurde Sprünge machen. Das erste Unterkapitel beginnt mit der Geschichte eines Semaphors, eines Mastes mit verstellbarem Flügelsignal zur optischen Zeichengebung, mit dem man in Frankreich, Russland oder den USA schnell Signale geben wollte, etwas ob ein Schiff angekommen ist. Am Ende weiß man zwar, was ein Semaphor ist, aber das Kapitel endet im Nichts. Im zweiten Kapitel wird der Protagonist der übrigen Kapitel vorgestellt. Er heißt Harry. Die Botschaften, die er empfängt, handeln von seinen Frauen, die ihn alle mit einem gewissen Tobias betrügen, dem er selbst aber zunehmend ähnlich wird. Oder vom Verlassen, vom Verlassen von Fahrzeugen, vom Verlassen von Menschen. Andere Botschaften handeln von  Erniedrigung, Abscheulichkeit oder Verlegenheit. Um die Absurdität des Textes etwas besser nachvollziehen zu können, möchte ich einen typischen Absatz aus dem Kapitel über Verlegenheit zitieren:
Harry regiert außerordentlich sensibel auf das, was andere von ihm denken. Er fürchtet sich so sehr, eine falsche Frage zu stellen oder ein falsches Wort auszusprechen, dass er im Bus lieber bis zur Endstation durchfährt, als den Fahrer oder einen anderen Fahrgast zu fragen, wohin der Bus fährt. … Harry marschiert in eine Bank in Queens und richtet eine Pistole auf den Kassierer. Raus mit dem Moos, sagt er. Moos, spottet der Kassierer. Wo sind wir denn hier? In einer Gärtnerei? Nächstens verlangen Sie noch Vergissmeinnicht. Harry wird über und über rot. Man spottet über ihn. Er ist verlegen. Eine nur allzu vertraute Verlegenheit. Also erschießt der Kassierer und springt vor der Bank auf einen vorbeifahrenden Bus. Töten ist ein stabilisierenden Gesellschaftsfaktor. Aber schon ist Harry wieder von einer vertrauten Panik erfüllt; er weiß nicht, wohin der Bus fährt.

Ich will nun natürlich nicht den Inhalt aller Kapitel beschreiben, aber das Beispiel ist m.E. gut geeignet, um einen kleinen Eindruck zu bekommen. Sehr intelligente Gedanken, absurd miteinander verknüpft. Man muss sich darauf einlassen und sollte nicht versuchen, dem jetzt eine inhaltliche Logik zu geben und auf seriell beschriebene Handlungen zu warten. Aber es entlockt mir doch des Öfteren ein Schmunzeln ob der Absurdität der Gedankengänge. Ein weiteres Beispiel:

Es ist kalte, klinische Lust, die in eine Dose Rasierschaum gepresst ist. Sie starrt gebannt darauf. Eines Tages wird sie sich damit einschäumen.
In der zweiten Geschichte "Uniformen des Lebens - Eine Studie über die Ekstase" treten weitere Personen in den Kosmos des Autors hinzu, es geht um Elektrizität und Fotografie, die Geschichte entfaltet sich diesmal etwas homogener, der Rahmes ist enger gesetzt, aber innerhalb dieses Rahmens gehen die absurden Gedankensprünge munter weiter.

Am längsten ist die dritte Geschichte "Dies ist kein Film, dies ist ein klarer Akt des Zweifels", wo eine Vielzahl von Figuren auftreten, die erstmals auch charakterlich wenigstens fragmentarisch skizziert werden. Es geht um eine nicht namentlich genannte Stadt, wo ein Einkaufszentrum entstand und darüber ein Film gedreht werden soll. Sie dreht sich um den verschwundenen Architekten dieses Einkaufszentrums und alle Personen in seiner Umgebung und entfaltet viele schöne kleine Episoden rund um das Arbeits- und Liebesleben der Figuren, am Ende gibt es eine noch hübsche kleine Pointe. Das ist lange nicht so abstrus wie die beiden vorherigen Erzählungen.

In der vierten Geschichte "Die Istanbuler Aufzeichnungen" geht es um die fiktive Tochter von Hitler, in die sich der Protagonist während seiner Zeit als Botschaftsattaché in Istanbul verliebt, eine schöne, schräge Erzählung. Die nachfolgende Geschichte finde ich langweilig und ohne roten Faden.

Gut gefällt mir die siebte Geschichte  "Das zweite Bein", in der der Protagonist eine Beziehung zu der schönen, "präraffaelitischen" Ludmilla hat, die in New York in der Kunstszene im weiteren Sinne arbeitet und sich mit Kostümen beschäftigt. Ihr besonderes Merkmal ist, dass sie ein gutes und ein schlechtes Bein hat, was zwar nicht weiter spezifiziert wird, was man aber auch als zwei Seiten ihrer Persönlichkeit deuten mag, mit der sie mal den Ich-Erzähler, dann aber auch wieder einen Victor liebt.

Und schließlich möchte ich noch die drittletzte Geschichte erwähnen, die "Wie der Kamm dem Haar eine neue Bedeutung verleiht" heißt und in der Marcel Proust als Nachbar von Mr. und Mrs. Dip nach Albuquerque zieht. Letztere ist eine Lehrerin für verlorene (geistig behinderte) Kinder und ihre Beschäftigung mit diesen Kindern wird in dem fiktiven Werk 'Auf der Suche nach dem verlorenen Albuquerque' verewigt, was eine wirklich schön skurrile Erzählung ist.

Lesespaßfaktor:

 ♥♥♥♡♡

Ich bin eigentlich kein großer Fan von Kurzgeschichten. In jede neuen Geschichte muss man sich neu hereinversetzen und gerade ist man mit den Personen etwas vertraut, ist es schon wieder vorbei. Dennoch mag ich in diesen Geschichte von Walter Abish das Augenzwinkern, die leichte Ironie und die schön beschriebenen kleinen Beobachtungen des Alltags, die mit den großen Fragen des Lebens wie Liebe oder Freundschaft verknüpft werden. Und das alles immer einen Schritt jenseits der Realität oder eben postmodern.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen