Mittwoch, 1. Februar 2023

William Boyd - Eines Menschen Herz

 


Autor:

William Boyd stammt aus Schottland, ist aber 1952 in Ghana geboren und wuchs in den ersten Jahren in Afrika auf, bevor er in Schottland zur Schule ging. Studiert hat er Französisch, Englisch und Philosophie, danach als Dozent in Oxford gearbeitet. 1981 erschien sein erster Roman. Seither hat er zahlreiche Romane, Erzählungen und Drehbücher verfasst, 2013 gar einen offiziellen James Bond Roman. Die Themen seiner früheren Werke haben oft mit Afrika oder dem Schulwesen zu tun, die späteren Werke drehen sich um die Identität in der modernen Welt. Der erste internationale Bestseller stammt aus dem Jahr 2006 ("Restless").


Buch:

Dieses Werk wurde im Original 2002 veröffentlicht und erschien 2005 in der hier besprochenen deutschen Übersetzung. 2010 wurde auch eine vierteilige britische Fernsehserie gedreht, basierend auf diesem Roman. Geschrieben wurde es in einer Tagebuch-Prosaform, der Untertitel heißt entsprechend "Die intimen Tagebücher des Logan Mountstuart".

Hauptfiguren:

  • Logan (Gonzago) Mountstuart ('LMS'), geb. 1906 in Uruguay
  • Peter Scabius, Benjamin Leeping, enge Schulfreunde
  • Lucy Sansom, seine Cousine
  • Richard 'Dick' Hodge, Freund in Oxford
  • Land Fothergill, Kommilitonin in Oxford
  • Tess Clough, Freundin von Peter
  • Wallace Douglas, sein Literaturgent
  • Lady Laetitia Edgefield ('Lottie'), Ehefrau von LMS
  • Lionel, ihr gemeinsamer Sohn
  • Freya Deverell, seine zweite Ehefrau
  • Allanah Rule, seine Freundin in New York
  • Monday (alias Laura Schmidt), Freundin von Lionel
  • Gloria Ness-Smith, eine fast lebenslange Freundin von LMS, zeitweise Ehefrau von Peter

Inhalt und Rezeption:

Bevor die Tagebucheinträge im Jahr 1923 starten, gibt es eine Kurz-Zusammenfassung des bisherigen Lebens des Protagonisten. Geboren und aufgewachsen als Sohn eines leitenden Angestellten einer britischen Fleischfabrik in Uruguay, im Alter von 8 Jahren nach England zurückgekehrt, mit 13 Jahren nach einem Internatsaufenthalt dann auf ein College gekommen, wo die Einträge in das Tagebuch beginnen.

Zunächst geht es um das typische Internatsleben, LMS und seine beiden Freunde stellen sich gegenseitig schwierige Aufgaben, wie ein bestimmtes Mädchen zu verführen oder erfolgreich in einer Rugby Mannschaft spielen zu müssen. Außerdem beschäftigt ihn seine Cousine Lucy, in die er verliebt ist. 

Zwei Jahre später geht es weiter mit der Zeit am Jesus College in Oxford. Ben hat einen Job in einer Kunstgalerie in Paris angenommen und Peter studiert ebenfalls in Oxford, aber an einem anderen College. LMS findet in Bill Hodge einen neuen Freund, langweilt sich aber in Oxford. 
"..., vielleicht findet man so die wahre Zufriedenheit: indem man sich auf einen engen Horizont beschränkt, sich bescheidene , erreichbare Ziele setzt. Leider ist das nicht jedem vergönnt."
Peter ist immer noch in das Mädchen vom Lande verliebt, das er seinerzeit verführen sollte. LMS wiederum lernt Land kennen, ist etwas verliebt in sie, sie aber will nichts von ihm. Als Peter aufgrund einiger Schwierigkeiten mit seinem Vater und dem College einige Zeit nicht zu Tess kann, springt LMS ein und hat ein kurzes Verhältnis mit ihr. Die dreijährige Studienzeit trudelt so aus, LMS zieht nach London und schreibt seine Biografie über den Schriftsteller Shelley weiter.

Die Einträge werden sprunghafter. Die Biografie wird veröffentlicht, er nimmt sich einen Agenten und verbringt zunehmend Zeit in Paris. Auch ein Roman, der auf dem Leben einer von LMS in Paris besuchten Prostituierten basiert, wird ein Erfolg. Nachdem aus der Freundschaft zu Land doch nicht mehr wird, wird der Kontakt zu Lottie intensiver, die er auf einer Jagdgesellschaft von Dick vor ein paar Jahren bereits kennengelernt hatte. Schließlich heiratet er sie, sie bekommen einen Sohn. Dennoch langweilt sich LMS auf dem Lande, in dem Familienleben, er vermisst das Reisen, auch als Inspiration für sein Schreiben. 

Hier merkt man aber schon bei der inhaltlichen Zusammenfassung, dass es doch eher eine Aneinanderreihung von Episoden ist als ein literarisch komponierter Roman. Geschickt werden dabei zeitliche Sprünge eingebaut, wobei die Tagebuchteile dann mittels einer kleiner Zusammenfassung  geschickt verbunden werden. 

LMS nabelt sich langsam von seiner Familie ab, reist wieder und nimmt sich eine Wohnung in London. In Portugal lernt er eine junge Angestellte (Freya)  der BBC kennen, zu der er sich sehr hingezogen fühlt und ein langes Verhältnis beginnt. Die Monate und auch Jahre fliessen dahin, Themen wie der spanische Bürgerkrieg incl. einiger Erlebnisse mit Hemingway oder die Abdankung des englischen Königs im Jahre 1936 werden nur kurz gestreift. Die Ehe mit Lottie geht im Unfrieden auseinander, LMS heiratet Freya, die auch sofort schwanger wird. 

Der zweite Weltkrieg beginnt. LMS geht auf Empfehlung von Ian Fleming (James Bond sic!) zur Marineaufklärung. In dieser Funktion reist er nach Lissabon, wo er im Umfeld des Bruders des Königs (Herzog von Windsor, der Exkönig) wirkt. Auch zwei Jahre später wird er erneut auf den Herzog angesetzt, der jetzt Gouverneur auf den Bahamas ist und mit einem Nazigetreuen aus Schweden spekulieren soll. Von dem Aufenthalt und den dortigen Vorkommnissen (Mord an reichem Industriellen im Umfeld des Herzogs) wird lang berichtet. Später im Krieg muss LMS undercover in die Schweiz, um dort eventuell fluchtbereite Deutsche kurz vor dem erwarteten Kriegsende zu identifizieren. Die Operation misslingt, er wird verraten und in der Schweiz für mehr als ein Jahr inhaftiert. Die Episode ist süffig und spannend zu lesen. 

Nach seiner Rückkehr nach England muss LMS erfahren, dass er für tot erklärt worden war. Freya hatte neu geheiratet und wurde schwanger, dann schlug das Schicksal zu, bei einem Bombenangriff kam sie und seine Tochter ums Leben. LMS ist am Boden zerstört. Es dauert lange, bis er sich ein neues Leben aufbaut. Vorher ist er gar des Lebens überdrüssig und begeht einen Selbstmordversuch, nach einer Therapie schreibt er aber seine Novelle zu Ende, in der er seine Erfahrungen während der Gefangenschaft aufarbeitet. LMS geht als Ko-Direktor in eine Galerie nach New York, die sein Jugendfreund Ben dort eröffnet hat. Er findet eine neue Partnerin in Allanah und die Lebensfreude kehrt zurück. Im Buch kommen jetzt doch einige Längen, die Zeit, die LMS in New York als Galerist verbringt, sind doch etwas zäh. Er heiratet Allanah, trennt sich einige Jahre später von ihr, nachdem sie eine Affäre hatte. Viel Alkohol und einige öde sexuelle Abenteuer folgen. Das Leben von LMS plätschert etwas dahin, sein Sohn kommt nach New York, er ist Musiker und stirbt eines Tages an zu viel Alkohol und Drogen. LMS bändelt mit der Freundin seines Sohnes an, die aber erst 16 ist und als das herauskommt, flieht LMS aus New York aus Angst vor einer Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs.

1965 geht er dann als Dozent für englische Literatur nach Nigeria. Über den fünfjährigen Aufenthalt erfährt man nur etwas über den nigerianischen Bürgerkrieg, den sogenannten Biafra Krieg.

1971 kehrt LMS nach London zurück und muss sich trotz seines Alters mit freiberuflicher Schriftstellerei finanziell über Wasser halten, er bekommt so gut wie keine Rente. Sein Niedergang im Beruflichen wie im Privaten lastet schwer auf ihm. Hier ein schönes Zitat:
"Es ist gut zu wissen, daß man das wahre Glück kennengelernt hat - in dieser Hinsicht war das Leben nicht vergebens. Aber die einsicht, daß man nie wieder so glücklich sein wird wie damals, ist schon hart."
Seine alte Freundin Gloria kommt schwer krebskrank aus Italien zu ihm, ihre letzten Wochen verbringen sie gemeinsam, in Erinnerungen schwelgend und viel Alkohol konsumierend. Nach ihrem Tod kämpft LMS weiter um sein wirtschaftliches Überleben. Er ist so arm, dass er gar Hundefutter isst. Muss das sein? Hier driftet der Roman in unnötige Übertreibungen. Genauso als LMS dann, um seinem Leben einen neuen Sinn zu geben, Mitglied einer antifaschistischen Gruppierung wird. Muss das sein? Dass ein siebzigjähriger, Kunst beflissener Schriftsteller zum terroristischen Widerstand eines englischen Ablegers der Baader-Meinhof-Gruppe kommt, das ist schon ziemlich blöd.

Nach dem Scheitern der RAF zieht LMS nach Frankreich aufs Land in ein kleines Häuschen, das er geerbet hatte. Das Tagebuch löst sich etwas auf. Es folgen nur noch kurze Einträge ohne Datum, die den Zeitraum 1979 - 1991 abdecken. Die Jahre plätschern dahin, LMS wird zunehmend melancholisch:
Das ist alles, was das Leben am Ende ausmacht: die Gesamtheit des Glücks und des Unglücks, das einem widerfährt."
Es gibt noch eine Geschichte mit der Nachbarin, die ihren Vater, der im Krieg im Widerstand ehren möchte, die Dorfbewohner aber die Erinnerungstafeln immer wieder zerstören. LMS findet die Wahrheit heraus, nämlich das ebendieser Vater tatsächlich unmittelbar nach dem Krieg einige Ortsbewohner auf dem Gewissen hat, denen er Kollaboration vorgeworfen hatte. Als sein Ende naht, reflektiert LMS sein Leben und findet, dass es insgesamt ein gutes Leben war.


Lesespaßfaktor:

Der Tagebuchroman hat einen lockeren Erzählstil mit einfachen, kurzen Sätzen, aber er ist doch sehr unterhaltsam und süffig zu lesen. Sprachlich nicht immer sehr hochstehend, so wie man sicherlich ein Tagebuch im 20. Jahrhundert schreiben würde, aber dann gibt es immer wieder nette kleine begriffliche  Einsprengsel wie "Abwesenheit des Ornaments" oder "Nichtexistenz des Krempels".

Einige der Figuren tauchen kurz auf, werden oft so dargestellt, als seien es tatsächliche Berühmtheiten, was sie aber nicht sind, die meisten andere Personen gab es aber wirklich. Sehr gut finde ich das Verweben von historisch belegten Ereignissen, wie den Mord an einem Industriellen auf den Bahamas zu Zeiten als der Gouverneur der Herzog von Windsor war.

Technisch werden die vermeintlichen Lücken im Tagebuch sehr geschickt über kurze Zusammenfassungen verwoben, zum Ende des Lebens hin geht es nicht mehr um konkrete Zeitpunkte, sondern nur noch um einige Erinnerungen aus der letzten Lebensdekade des Protagonisten.

Zusammenfassend muss ich sagen, dass das Buch sehr lesenswert ist, ein kluger Lebensroman aus dem 20. Jahrhundert in Europa, der mir den fiktiven Autor sehr nahe bringt. Einige Längen und einige etwas plakative Banalitäten verhindern den fünften Stern.



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