Sonntag, 28. Januar 2024

Jakob Wassermann - Romantrilogie: Der Fall Maurizius: Geschichte eines Justizirrtums und Familienkonflikte + Etzel Andergast + Joseph Kerkhovens dritte Existenz

 


Autor:

Jakob Wassermann wurde 1873 im fränkischen Fürth in eine jüdische Familie geboren. Eine Lehre als Kaufmann im elterlichen Betrieb brach er früh ab, weil er schreiben wollte. Nach einigen Jahren des Umherwanderns traf er in München auf einen Verleger, der ihm eine Anstellung bei der Zeitschrift 'Simplicissimus' verschaffte. Dort veröffentlichte er auch 1896 seinen ersten Roman und danach zahlreiche weitere Werke. Zusätzlich schrieb er für das Feuilleton der F.A.Z. In München freundete er sich mit Thomas Mann und Rainer Maria Rilke an. Wie bei so vielen Autoren dauerte es aber lange, bis seine Werke Anerkennung fanden. Erst 1915 hatte ein Roman eine höhere Auflage. Er schrieb ähnlich wie Stefan Zweig Bücher mit stark psychologischen Komponenten, konnte aber bei weitem nicht an den Erfolg Zweigs heranreichen. Dennoch zählte er vor dem zweiten Weltkrieg zu den meist gelesenen deutschen Autoren. 1933 wurden die Werke Wassermanns verboten und verbrannt, er war finanziell ruiniert und starb bereits 1934 in Altaussee in Österreich, wo er zuletzt mit seiner zweiten Frau lebte. 


1. Der Fall Maurizius


Buch:

1928 erschien mit 'Der Fall Maurizius' der erste Band einer losen Trilogie um einen Justizirrtum. Es war das mit Abstand erfolgreichste Buch von Wassermann, in dem es neben der Detektivgeschichte vor allem auch um Familienkonflikte und ein schwieriges Vater-Sohn Verhältnis geht. Das Werk wurde bereits zweimal verfilmt. Die beiden Fortsetzungen erschienen 1931 und in Wassermanns Todesjahr 1934. Über die seinerzeitige Rezeption des Werkes konnte ich allerdings nicht viel herausfinden. 

Hauptfiguren:

Etzel von Andergast, 16 Jahre, Schüler
Wolf Freiherr von Andergast, Oberstaatsanwalt und Etzels Vater
Cilly von Andergast, die Baronin, Etzels Großmutter
Sophia von Andergast, Etzels abwesende Mutter
Otto Leonhart Maurizius, verurteilt wegen Tötung seiner Ehefrau
Peter Paul Maurizius, der Mann mit der Kapitänsmütze, Vater von Leonhart
Elli Hensolt, Ehefrau von Leonhart
Anna Jahn, verh. Duvernon, ihre Schwester
Gregor Waremme alias Warschauer, Kronzeuge, Freund von Anna

Inhalt und Rezeption:

Zu Beginn wird der 16-jährige Knabe Etzel Andergast kurz charakterisiert. Er lebt mit einer Hausdame im Hauses seines Vaters, der ein strenges Regiment führt, sich täglich genau 2 Stunden Zeit für seinen Sohn nimmt; Etzel fühlt sich dem Vater sehr unterlegen und oft fremd (", stets das Gefühl der Unzulänglichkeit in ihm erregende Gesicht auf der anderen Seite des Tisches,"). Er ist ein kleiner, schüchterner, zurückhaltender junger Mensch, eher ein Einzelgänger. Sein Vater ist Oberstaatsanwalt und in dieser Funktion ein stadtbekannter Mann, er ist seit vielen Jahren geschieden. 

Eines Tages kommt ein Brief im Hause an, Etzel sieht die Handschrift und vermutet, er sei von seiner in Genf lebenden Mutter. Aber daheim erfährt er nichts von ihrem Schicksal, wird aber zunehmend neugierig. Die Mutter wurde vom Vater nach einer aufgedeckten Affäre gezwungen, auf alle Ansprüche zu verzichten und sich von der Familie fernzuhalten. Das erfährt der Leser aber erst im letzten Viertel des Romans, als die Mutter zurückkehrt, um Etzel zu sehen und mit ihrem ehemaligen Ehemann abzurechnen.

Peter Paul Maurizius, 74, verfolgt auf der Straße sowohl Etzel als auch seinen Vater. Als Etzel seinen Vater nach diesem Mann fragt, antwortet dieser ausweichend. Ebenso seine Großmutter, die aber immerhin zu erkennen gibt, den Namen zu kennen und dass er vor 18 Jahren eine Bedeutung gehabt hatte und dass sein Vater wegen Maurizius Karriere gemacht hatte und dessen Sohn seinerzeit wegen Ermordung seiner Frau auf Basis von Indizien zum Tode verurteilt hatte und dieses Urteil dann zu lebenslanger Haft umgewandelt worden war. Leonhart Maurizius hatte aber die Tat stets bestritten. Der Vater hat nun ein Gnadengesuch bei Etzels Vater eingereicht, welches Etzel findet und daraufhin den alten Maurizius aufsucht, um mehr zu erfahren. 

Im Folgenden wird über das schwierige Verhältnis von Maurizius zu seinem Sohn und seiner Schwiegertochter berichtet sowie über die schwierige Ehe seines Sohnes und den Einfluss der Schwägerin; der Leser bekommt hierdurch langsam einen Eindruck, wie es zu dem Mord kommen konnte. Der alte Maurizius hat die Hoffnung, über Etzel Zugang zu dessen Vater zu bekommen und doch noch eine Begnadigung zu erreichen.

Was motiviert Etzel, sich für diesen Fall einzusetzen? Sicherlich sein Drang nach Gerechtigkeit, aber sicherlich auch ein Auflehnen gegen den strengen, dominanten Vater. Er leiht sich Geld bei seiner Großmutter, hinterlässt seinem Vater einen Abschiedsbrief und verschwindet, um sich auf die Suche nach der Wahrheit zu  machen. Der Vater ist tief verletzt und verärgert, forscht nach, befragt u.a. den Lehrer, der für seinen unfreiwilligen Ratschlag an Etzel anschließend auf sein Betreiben aus der Schule entfernt wird. Aber er ist auch unruhig und fordert schließlich die Akten des Falles Maurizius an, er spürt offenbar innerlich, dass er nur darüber seinen Sohn zurückbekommt. Es beginnt eine Art Wettbewerb zwischen Vater und Sohn auf der Suche nach der Wahrheit in diesem Fall.

Nachfolgend wird dann die angespannte Ehe von Leonhart Maurizius geschildert, die Eifersucht seiner Frau, seine Beziehung zur jüngeren Schwägerin Anna und der schlechte Einfluss von Waremme, für den Leser werden mögliche Motive ausgelegt, das ist stark gemacht. Das Aktenstudium führt aber dem Baron vor Augen, dass der seinerzeitige Prozess doch nicht so sauber geführt wurde, wie es hätte sein müssen.

Im zweiten Teil wird berichtet, dass Etzel nach Berlin gereist ist, um dort den Kronzeugen Waremme aufzusuchen. Er wird Mitglied einer Mittagessengemeinschaft, in der auch Waremme verkehrt und nimmt schließlich bei ihm Sprachunterricht.  Nach einigen Unterrichtsstunden spricht er ihn dann auf den Fall Maurizius an, Waremme bestreitet aber, etwaige Briefe von Leonhart zu haben. Etzel erfährt (sehr langatmig), dass Waremme eigentlich wirklich Warschauer heißt und aufgrund des deutschen Antisemitismus alles daran gesetzt hat, adoptiert zu werden und dadurch vermeintlich zum 'Arier' zu werden. Im folgenden kann Etzel dann aber doch einiges über das Leben von Waremme erfahren, etwa über seine Jahre in den USA (die Beschreibungen von vor 100 Jahren sind dabei gar nicht so weit von den heutigen Zuständen dort entfernt!) und insbesondere über seine Beziehung zu Anna. 

Andergast sucht Maurizius in seiner Zelle auf, kann aber den wahren Zweck seines Besuches zunächst selbst nicht recht begreifen. Er erfährt von dem Inhaftierten etwas über seine damalige Ehe, Maurizius hat relativ schnell Anna gegenüber anerkennen müssen, dass er Elli nicht aus Liebe geheiratet hat, sondern wegen ihrer vermeintlichen hohen Mitgift. Als dann der damals alle inspirierende und überaus selbstgefällige Waremme auftaucht, entsteht eine seltsame Dreierbeziehung zwischen Waremme, Anna und Maurizius. Anna gesteht Maurizius, dass ihre psychischen Probleme von einer Vergewaltigung herrühren, erst nach einiger Zeit wird Maurizius klar, dass Waremme der Vergewaltiger ist und Anna durch den schrecklichen Vorfall traumatisiert ist. Die komplizierten Beziehungen der vier Personen führ schließlich zum Unglück. Andergast ist sich zunehmend sicher, dass Maurizius doch nicht schuldig ist und bietet ihm eine Begnadigung an. Maurizius beschreibt langatmig seine lange Haftzeit und die Haftbedingungen im Allgemeinen, so dass Andergast sich fühlt, als hätte er die ganze Haftzeit selbst erleben müssen.

Zu Beginn des dritten Teils geht die Geschichte zurück nach Berlin zu Etzel und seinen Gesprächen mit Waremme. Lange Gespräche über Gerechtigkeit folgen, Etzel wird ungeduldig, sein Geld geht zur Neige, er will endlich wissen, wer geschossen hat. Und endlich erfährt er, dass es Anna war, die in all ihrer Verzweiflung ihre eigene Schwester erschossen hat. Und da sie verzweifelt in Maurizius verliebt gewesen war, dieser das aber nicht merkte, obwohl er seinerseits um Anna buhlte, ließ sie zu, dass die Schuld für die Ermordung ihrer Schwester von Maurizius getragen wurde, der eben aus seiner Liebe zu Ann heraus sie schütze und die Schuld auf sich nahm, obwohl er nie den Mord zugegeben hatte. Nach diesem Geständnis kehrt Etzel dann zurück zu seinem Vater. Wunderbar beschrieben das Wiedersehen zwischen Vater und Sohn. Der Vater fragt nicht etwa, wo er gewesen sei, sondern "Was soll werden?" Er enthüllt Etzel die Begnadigung von Maurizius, woraufhin ein Streit entsteht, denn Etzel will Gerechtigkeit und daher eine Wiederaufnahmeverfahren, um das Unrecht zu tilgen. Diese letzte Auseinandersetzung mit den Vater ist furios geschrieben.

Nach der Begnadigung kehrt Maurizius zu seinem Vater zurück, der ob der Erfüllung seiner Mission ihm noch sein ganzes Vermögen vorführt und dann am selben Abend entschläft. Sein Wunsch, seine uneheliche Tochter wiederzusehen, erfüllt sich nicht, man lässt in nicht zu ihr. Auch Anna sucht er auf, doch der Zauber ist völlig verflogen, Anna ist eine blasse saturierte Frau geworden, die lediglich Angst hat, ihren erreichten Status als Fabrikantenfrau zu verlieren und schnell verschwindet als sie feststellt, dass Maurizius ihr diesen Status nicht streitig machen will. Er reist ziellos quer durch Europa, kann keinen Ankerpunkt und Sinn mehr in seinem Leben finden. Schließlich springt er aus einem Zug in den Tod.

Und zum Schluss noch ein wundervolles Zitat:
Ein sechzehnjähriger Geist muss frei rotieren, muss sich in der Illusion von Grenzenlosigkeit bewegen; wird er aus der Freiheit von Traum und Spiel in die Zweckbahn gezwungen, so fängt er an zu leiden, unvermeidlich, weil er ahnt und bald zu spüren bekommt, dass er auf die beglückende Wirrnis, die beglückend-unermessliche Fülle zu verzichten hat, für die ihn das Leben nie wieder entschädigen kann.
Lesespaßfaktor:

Dieser insgesamt wundervolle Roman ist überwiegend aus Sicht von Etzel erzählt. Er strotzt vor sprachlicher Kraft mit langen, oft verwinkelten Sätzen. Es gibt immer wieder zeitliche Sprünge von der Gegenwart in verschiedene vergangene Zeiten, die dann nach und nach das ganze Bild des Kriminalfalls aufzeigen. In die Kriminalgeschichte sind immer wieder längere psychologische und weltanschauliche Betrachtungen eingeflochten. Aber auch der Vater-Sohn Konflikt nimmt einen breiten Raum ein. Auf der einen Seite der pflichtbewusste Beamte, auf der anderen Seite der stürmische junge Freigeist. Die Fassade des Vaters beginnt Schritt für Schritt zu brechen, aber bis zum Schluss kann er doch nicht ganz aus seiner Haut. Wassermann bringt immer wieder seine eigenen weltanschaulichen Positionen ein, etwa zum Thema Gerechtigkeit im Allgemeinen oder den Bedingungen des Strafvollzugs im Besonderen.

Auch wenn die Sprache natürlich aus dem vergangenen Jahrhundert stammt, ich finde sie einfach stark und überzeugend, ich bedauere es fast ein wenig, dass heutige Autoren ein anderes Sprachverständnis haben. Einziger kleiner Kritikpunkt sind gelegentliche Längen, etwa als Andergast Maurizius im Gefängnis besucht, es gibt dann seitenweise Beschreibungen anderer Gefangener, die nicht zur eigentlichen Geschichte passen. 



2. Etzel Andergast

Buch:

Dieses Buch wurde drei Jahre später veröffentlicht. Der Roman besteht aus zwei Teilen, der erste Teil heißt "Die Vor-Welt", der zweite Teil "Die Mit-Welt". Im ersten Teil ist überhaupt nicht zu erkennen, dass das Werk im Zusammenhang mit dem Fall Maurizius steht.

Hauptfiguren:

Joseph Kerkhoven, Arzt, geboren 1880 in Düsseldorf
Nina Kerkhoven, geborene Belotti, seine Ehefrau
Johann Irlen, Major a. D.
Senatorin Viktorine Irlen, seine Mutter
Ernst Bergmann, Irlen's Neffe
Marie Bergmann, Ehefrau von Ernst, später: Marie Kerkhoven
Adrienne Martersteig, ihre Mutter
Aleid, Tochter der Bergmanns
Johann Karl und Ludwig Robert, Söhne von Marie und Kerkhoven
Herr von P., Maries Liebhaber
Otto Kapeller, Hauptaktionär der Kapellerschen Stahl- und Maschinenwerke
Dagmar Kapeller, seine Schwester
Jessie Tinius, Freundin des Selbstmörders Roderich Lüttgens
Eleanor 'Nell' Marschall, ein Freundin von Etzel ist
Emma Sperling, Schauspielerin, Geliebte von Etzel
Jürgen Lorriner, 

Inhalt und Rezeption:

Irlen kehrt von einem längeren Aufenthalt in Afrika zurück zu seiner Familie und wohnt im Haus seiner Mutter, wo auch sein Neffe mit seiner Frau Marie lebt. Da es ihm gesundheitlich nicht gut geht, wird nach einem Arzt gerufen. So kommt es, dass Kerkhoven beginnt, regelmäßig im Haus von Irlen zu verkehren und sich mit Irlen anfreundet.

Kerkhoven ist noch ein junger Arzt und hat zahlreiche Patienten mit unkonventionellen Methoden (Handauflegen) helfen können, er dringt tief in die Psyche ein. Er ist verheiratet mit der Italienerin Nina, die ihm in seiner Praxis hilft. Im Mittelpunkt des ersten Teils steht nun eben dieser Kerkhoven, seine inneren Kämpfe als Mediziner für kleine Leute, die aber mit seinen wissenschaftlichen Ansprüchen im Widerspruch stehen, werden in extensio elaboriert. Auch seine Kindheitserlebnisse werden eingeflochten, allerdings ist das alles bei weitem nicht mehr so stringent und mitreißend wie dies im 'Fall Maurizius'  der Fall war.

Nina leidet unter der Entfremdung von ihrem Mann, der sich Tag und Nacht nur um die Medizin und seine Freundschaft zu Irlen kümmert. Kerkhoven bemerkt dies zunächst nicht, später wird Nina daran sogar wahnsinnig und wird in eine Anstalt eingeliefert, nachdem sie Marie mit einer Waffe bedroht hat. Aber auch dieser Part der Geschichte zündet irgendwie nicht so richtig.

Bei seinen zahlreichen Besuchen im Hause Irlen freundet sich Kerkhoven mit Marie an, die in einer freudlosen Beziehung zu ihrem Mann lebt. Er bringt sie auch dazu, ihre Affäre mit einem Herrn von P. aufzugeben. Später fangen die beiden selbst eine Liebesbeziehung an, Ernst willigt schließlich auch in die Scheidung ein und sagt Marie zu, dass die gemeinsame Tochter Aleid bei ihr bleiben könne. Das aber will die Senatorin unbedingt verhindern und entführt quasi das Kind, aber Marie setzt sich am Ende doch durch.

Irlen Krankheit wird zunehmend schlimmer, er wird sterben müssen und bittet Kerkhoven um Sterbehilfe, die dieser ihm auch gewährt. Damit hat er aber moralisch zu kämpfen und als Buße geht er als Militärarzt in den ersten Weltkrieg.

Nun kommt ein großer Zeitsprung. 14 Jahre später ist Kerkhoven ein angesehener Professor an der Universität in Berlin, die Professur hat er für seine Arbeiten zur Psychosomatik erhalten. Er ist nun mit Marie verheiratet (nachdem seine Frau Nina verstorben ist), sie leben zurückgezogen mit ihren beiden Söhnen auf dem Land.

Nun taucht auch Etzel Andergast doch noch auf, er will auf Empfehlung einer Bekannten (Eleanor Marschall) mit Kerkhoven sprechen im Zusammenhang mit dem Selbstmord eines Freundes (Roderich Lüttgens) und der Selbstmorddrohung dessen Freundin Jessie Tinius, den er verhindern will. Darüber lernen sich die beiden kennen und schätzen,trotz des Altersunterschiedes. Vielleicht sucht Etzel, der nach dem Fall Maurizius zunächst selbst einen Zusammenbruch erlitten hatte, in Kerkhoven eine neue Vaterfigur, denn sein eigener Vater ist inzwischen auch verstorben. 

Bei einer Essenseinladung lernt Etzel dann auch Marie kennen, die ihn aber zunächst ablehnt, da sie ihn  als distanziert und kaltherzig empfindet. Im Zuge der Gespräche wird dann auch die Vorgeschichte zum Selbstmord von Lüttgens erzählt, die ich hier aber nicht weiter zusammenfassen will. 


Lesespaßfaktor:

Wie es schon anklang finde ich in diesem Roman nicht mehr den Sog, der mich in die Geschichte reinzieht. Es wirkt alles unzusammenhängender und etwas gestückelt, manchmal fehlen die Übergänge. Der schöne Sprachstil ist aber wieder vorhanden ("..., das Vertrauen zu einem Menschen ist ein Diamant, den die geringste Verletzung entwertet.). Aber wieso der kranke Irlen dann plötzlich nach London reist und dort versucht, den Ausbruch des Krieges zu verhindern, das ist einfach unsinnig. Oder warum einzelne Anekdoten -wie aus der Geschichte um Jürgen Lorriner- extensiv und für mich ohne einen echten Zusammenhang zur Haupthandlung eingeflochten werden, außer dass Etzel darüber seine Geliebte kennengelernt hat, das trübt das Lesevergnügen doch stellenweise ziemlich.

Eine millionenfache Erfahrung ist noch kein Naturgesetz und die verführerischste Wahrscheinlichkeit ist noch keine Wahrheit.
♥♡



3. Joseph Kerkvovens dritte Existenz

Hauptfiguren:

Joseph Kerkhoven, Neurologe, geboren 1880 in Düsseldorf
Marie, seine Frau
Aleid Bergmann, ihre Tochter aus erster Ehe
Alexander Herzog, Schriftsteller
Bettina Herzog, seine Ehefrau, vormals Merck
Ganna Mewis, seine Exfrau

Inhalt und Rezeption:

Erstes Buch

Im Herbst 1929 erfährt Kerkhoven, dass seine Ehefrau Marie ihn ausgerechnet mit seinem jungen Freund und Zögling Etzel Andergast betrogen hat, eine Welt bricht für den Arzt zusammen, er, der sich immer für seien Patienten aufgeopfert hat, fühlt sich vor solchen privaten Rückschlägen gefeit. Er hat nicht bemerkt, wie seine Ehe unter seinem Beruf gelitten hat und wie sich ihre Beziehung zueinander  langsam entfremdet hat. 
"Er war ihrer zu sicher. Die Sicherheit hat bewirkt, daß ihm Marie zu einem lebendigen Hausrat geworden war, der unverrückbar an seinem Platz verbleibt und keiner besonderen Mühewaltung mehr bedarf."
Und beruflich fühlt er sich völlig ausgebrannt. Daher beschließt er, neu anzufangen. Das Ehepaar trennt sich sich auf unbestimmte Zeit, Marie geht mit den beiden Kindern nach Berlin, nimmt dort verwahrloste Kinder in Obhut, während Joseph auf eine Forschungsreise nach Java geht. Außerdem will er ein Buch über Wahnvorstellungen schreiben.

Nach Josephs Rückkehr ziehen er und Marie an den Bodensee, er will dort eine Psychiatrie eröffnen, sie will sich dort um vernachlässigte Kinder kümmern, wie es kurzzeitig bereits in Berlin gemacht hat während Josephs Abwesenheit. Auch wenn die Ehe zunächst wieder gut zu funktionieren scheint, wird Marie schnell eifersüchtig, als Mabel auf der Durchreise vorbeischaut, eine Frau, die Joseph in Java kennengelernt hat und freundschaftlich sehr schätzt. Hier wird der Unterschied zwischen den beiden deutlich, Marie hätte weniger gegen eine sexuelle Beziehung als gegen eine innige freundschaftliche ihres Mannes zu Mabel. Aber Joseph beendet schnell die Beziehung. Im Folgenden werden einzelne Fälle aus den Behandlungen Kerkhovens an seinen Patienten beschrieben, etwa von der Hellseherei Emilies, die einen Kriminalfall aufklären half.

Zweites Buch

Auf der Trauerfeier seines Doktorvaters lernt Joseph Bettina kennen, die wiederum die Ehefrau eines Schriftstellers ist, dessen Vortrag in Freiburg Joseph tief bewegt hat. Er bekommt mit, dass ihr Mann schwere seelische Probleme (manisch depressiv) hat und folgt ihr nach Hause, um sich um Alexander zu kümmern. Wieder einmal zieht Joseph diese medizinischen Probleme an. Da die Ursache von Alexanders Depression in seiner Exfrau Ganna liegt ermuntert Joseph ihn, die toxische Beziehung zu ihr literarisch aufzuarbeiten. Es folgt ein Roman im Roman mit dem Titel "Spiel der Jugend", der aus Sicht Alexanders seine schwierige Ehe mit Ganna in extensio aufarbeitet. Aber ein wirklich schönes Zitat sei hier erwähnt:
"Die Öde ihrer Gesellschaften (der Familie seiner Frau mit ihren Geschäftsfreunden) entging mir; in ihren Gesichtern die geistlose Spannung von Menschen, die mit einem Strohhalm zwischen den Lippen Seifenblasen machen und sich eifervoll überbieten, wer die größte und schillerndste verfertigen kann, entging mir." 
In toto ein zunächst mal amüsant und meist wirklich schön zu lesender Text über eine Ehe, in der sich Alexander von Anfang an deplatziert fühlte und die daher schrittweise in ein Verhängnis münden musste. Warum hat er Ganna eigentlich überhaupt geheiratet? Aber gerade die Phase als Alexander Bettina, seine zukünftige Frau, kennenlernt und die Probleme zwischen ihr und seiner Frau sowie der lange Weg bis zur teuren Scheidung von Ganna und die Zeit danach geschildert werden, ist es wieder viel zu lang(atmig).

Drittes Buch

Die Geschichte springt zurück zu Joseph. Er nimmt in seinem Sanatorium eine Paar auf, das lange unschuldig im Gefängnis saß und große Mühe hat, zurück ins Leben zu finden. Dann taucht bei ihm  unvermittelt die Tochter Maries auf, die schwanger ist und berichtet, dass der Vater des Kindes ermordet wurde. Die Beziehung zur Mutter gestaltet sich nach ihrem Suizidversuch schwierig. Und die Geschichte von Alexander nach seiner Scheidung wird  weitererzählt, er leidet noch immer unter schweren Depressionen. Schließlich sind alle bei Joseph im Sanatorium am Bodensee untergebracht. Die Handlung wird nicht mehr vorangetrieben, statt dessen werden die Persönlichkeiten Alexander und Bettina auf der einen Seite, sowie Marie und Joseph auf der anderen Seite und ihre jeweiligen Beziehungen eher abstrakt beleuchtet, auch hier wäre wieder weniger mehr gewesen.

Lesespaßfaktor:

Der Roman beginnt mit sehr wenig Handlung, statt dessen gibt es etwas sehr langatmige Betrachtungen über die Ehe und wie Marie und Joseph sich in der Situation nach dem Fremdgehen Maries mit Etzel fühlen. Ansonsten taucht die Figur Etzels gar nicht mehr auf. Sowohl Marie als auch Joseph sind praktisch immer in ihren inneren Betrachtungen über das Leben, den Sinn ihres jeweils eigenen Lebens verstrickt. 

Wassermann hat unzweifelhaft sehr großes Interesse an seinen Figuren, meist geht es um deren innere Dämonen, die meisten scheinen irgendwie mit dem Leben zu hadern. Ist das autobiographisch? Vielleicht! Der Roman im Roman gefällt mir als Stilmittel weniger, er ist viel zu lang und lenkt damit von der eigentlichen Geschichte völlig ab, man verliert Joseph völlig aus den Augen. Die Figur Josephs ist dargestellt als der starke, sich aufopfernde (Seelen)arzt, der sich um alle seine Patienten kümmert, für ihn selbst bleibt aber wenig übrig im Leben. Zusammenfassend ist mir dieses Werk zu lang und damit leider auch zeitweise zu langatmig.

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