Montag, 1. Februar 2021

Alexander Solschenizyn - Der Archipel Gulag (Band I)


Autor:

Solschenizyn wurde 1918 in einer mittelgroßen Stadt im nördlichen Kaukasus geboren. Schon früh wollte er Schriftsteller werden, aber aus finanziellen Gründen studierte er nach dem Abitur zunächst Mathematik und Physik. Er war in jungen Jahren Anhänger von Lenin. Im zweiten Weltkrieg war er Soldat in der Artillerie und verfasste über seine Erfahrungen erste Gedichte. Weil er in privaten Briefen Kritik an Stalin geäußert hatte, wurde er 1945 verhaftet und zu 8 Jahren Haft mit anschließender Verbannung verurteilt. Die Haftzeit verbrachte er im Gulag (Begriff für die Gesamtheit der sowjetischen Lager). Über seine dortigen Erlebnisse schrieb er einen Roman und eben das hier besprochene Hauptwerk, für das er erneut verhaftet und nach Deutschland abgeschoben wurde. Trotz schwerer Krebserkrankungen und eines Giftanschlags wurde er 89 Jahre alt. Sein Spätwerk sah sich antisemitischen Vorwürfen ausgesetzt. 1970 erhielt Solschenizyn den Nobelpreis für Literatur.


Buch:

Der Autor begann mit dem Schreiben dieses Buches bereits 1958 und vollendete es erst 1967. Der hier vorliegende Band I erschien 1973, nachdem er lange zurückgehalten wurde aus Respekt vor den noch lebenden Personen, die im Buch vorkommen. Als aber das Manuskript durch eine Person aus dem Umfeld Solschenizyns an den KGB gelangte, entschied er sich zur sofortigen Veröffentlichung. Es geht um die Beschreibung des Systems der Straf- und Arbeitslager in der Sowjetunion zur Zeit Stalins, genannt GULAG. Archipel bedeutet wörtlich Inselgruppe, hier zu verstehen als die Verteilung der vielen Lager über die ganze Sowjetunion hinweg.


Inhalt und Rezeption:

Erster Teil: Die Gefängnisindustrie

Kapitel 1: Die Verhaftung

Ganz zu Beginn gibt es eine erste Beschreibung über die Bedeutung, verhaftet zu werden.

"Verhaftet werden, das ist: ein Aufblitzen und ein Schlag, durch die das Gegenwärtige sofort in die Vergangenheit versetzt und das Unmögliche zur rechtmäßigen Gegenwart wird."

Hier geht es nicht primär um die Verhaftung von Solschenizyn (im folgenden 'S." abgekürzt), sondern um den Vorgang des Verhaftens selbst, der verschiedenen Methoden und Orte. Es ging in dem meisten Fällen einfach darum, Vorgaben an zu Verhaftenden zu erfüllen, da gab es sehr oft nicht einmal vorgeschobene Gründe, die Arbeitslager mussten gefüllt werden. Warum haben sich dies so viele Menschen gefallen lassen, warum gab es keine Meuterei gegen die Massenverhaftungen, lag es an dem mangelnden Freiheitswillen der Menschen?

Kapitel 2: Die Geschichte unserer Kanalisation

Es geht um die Geschichte der Inhaftierungen, ergo der Säuberungen in der Sowjetunion, die bereits früh im Jahr 1917 begann, als die Kadetten, Mitglieder einer bürgerlich-demokratischen Partei, die 1905 nach dem Ende des Zarentums gegründet wurde und die in der ersten Volksvertretung die Opposition bildete, verhaftet werden. Es folgten unmittelbar zahlreiche Gruppen, von denen hier nur man Hausbesitzer und Geistliche genannt seien. Ausgeführt wurden die Verhaftungen von der Tscheka (1917 gegründete Staatspolizei), die hierfür Legislative, Judikative und Exekutive war.

Im Laufe der Jahre hat es praktisch alle nur flüchtig Andersdenkende oder als potentiell gefährliche eingestufte Gruppen getroffen, die den endlosen Strom der Gefangenen bildeten oder sogar Systemunterstützer, weil gerade Bedarf an Zwangsarbeitern war und das System befüllt werden musste. Ende der 1920er Jahre braucht der Staat Gold und so werden alle Personen, die Gold besitzen könnten, verhaftet, bis hin zu Zahnärzten und -technikern. S. sagt aber auch, dass all das nur möglich war, weil die Menschen sich nicht gewehrt haben und viele aus reinem Opportunismus öffentlich zugestimmt haben.

Kapitel 3: Die Vernehmung

Es ist schon verwunderlich, dass nach der Unzahl der Verhaftungen auch eine Unzahl von Vernehmungen folgte, in denen dann eine vorgebliche Legitimierung für die Verhaftung konstruiert werden musste, sehr oft durch die Anwendung von Folter und solange, bis das Geständnis oder die Preisgabe von weiteren Namen erwirkt war. Warum hat man nicht gleich die Menschen einfach weggeschickt und sich den enormen Verwaltungsaufwand in der Pseudojustiz gespart? Man hätte die Sklaverei wieder einführen können und per se jeden als Sklaven definieren können.

S. zählt zunächst 31 psychische und physische Foltermethoden auf, von denen ihm direkt berichtet wurde, vom Schlafentzug bis zum Fingerquetschen. Man glaubt vieles von dem aus entsprechenden Kinofilmen zu kennen, aber in der Professionalität der Durchführung gegen das eigene Volk gerichtet, macht es den Leser dann doch sprachlos.

Kapitel 4: Die blauen Litzen

Nun geht es um die Untersuchungsrichter (mit ihren blauen Litzen) und ihre willkürliche Macht bei oft sehr kleinem Geist. Dies wird sehr gut zusammengefasst in folgendem Zitat:
"Dass die Macht Gift ist, ist seit Jahrtausenden bekannt....Aber es ist für einen Menschen, der an etwas Höheres glaubt und sich darum seiner Begrenztheit bewusst ist, die Macht noch nicht tödlich. Für Menschen ohne höhere Sphäre ist die Macht wie Leichengift. Für sie gibt's bei Ansteckung keine Rettung."

Kritisch reflektiert S. dann seine eigene Offiziersposition im Militär, wo er selbst qua der Sterne auf seiner Uniform seine Macht hin und wieder missbraucht hat. Es geht um die philosophische Betrachtung von Gut und Böse. Was ihm aber zu schaffen macht ist, dass die Verantwortlichen für die Säuberungen hernach nie gerichtet wurden.

Kapitel 5: Erste Zelle - erste Liebe

Nach der Verurteilung geht es in die erste Zelle und S. ist nicht mehr alleine. Er feiert das Zusammensein mit anderen Häftlingen und den Austausch mit ihnen, trotz aller Kargheit des Lebens und Bespitzelung auch in der Zelle. Nach und nach wird die Geschichte jedes einzelnen dieser Mitinsassen geschildert.

Kapitel 6: Jener Frühling

Mit Kriegsende des Jahres 1945 sind auch zahlreiche sowjetische Kriegsgefangene, die zunächst von der Roten Armee befreit wurden, sowie zurückkehrende Emigranten bei ihrer Heimkehr in die Sowjetunion wieder verhaftet worden, frei nach dem Motto, wie es denn sein könne, dass man die deutschen Vernichtungslager überleben konnte, also muss ja etwas faul sein, mit anderen Worten Kollaboration stattgefunden haben, ergo wurden diese Menschen für 10 Jahre ins Arbeitslager geschickt. Überhaupt Soldaten, die im Westen waren, wurden oft ins Gulag geschickt, denn sie hätten ja den westlichen Freiheitsgedanken in die Sowjetunion bringen können. Es folgen Kriegsbeschreibungen oder Schicksale einzelner Emigranten, auf die ich hier aber nicht näher eingehen will.

Kapitel 7: Im Maschinenraum

Nach der Untersuchungshaft empfängt S. das Urteil, das 8 Jahre Lager bedeutet. Er ergeht sich in Ausführungen zum Rechtssystem und wundert sich, dass es überhaupt ein solches gibt, wenn die Urteile schon vorher feststehen und die meisten Verurteilungen sogar außerhalb des Systems erfolgen, nämlich durch Sonderausschüsse des Volkskommisariats für das Innere.

Kapitel 8 -11: Das Gesetz in den Kinderschuhen, Das Gesetz wird flügge, Das Gesetz ist reif, Das Höchstmaß 

Es werden zahlreiche Gerichtsprozesse aufgeführt aus den frühen Jahren nach der Revolution, die aber für den heutigen Leser nicht mehr wirklich von Interesse sind. Zumal ja sowieso klar ist, dass alles nur Schauprozesse waren vor dem Hintergrund der Interessen des vermeintlichen Arbeiter- und Bauernstaates, inklusive der ausgesprochenen Todesstrafen. 

Kapitel 12: Tjursak, die Gefängnishaft

ausgelassen

Zweiter Teil: Ewige Bewegung

Kapitel 1: Die Schiffe des Archipels

Hier geht es um das Transportwesen im System, etwa dem Zugnetz im Lande, über das all die Gefangenen in die Lager verfrachtet wurden. Natürlich waren die Waggons überfüllt und die Bedingungen unerträglich, Wasser wurde knapp gehalten, damit die Häftlinge seltener austreten mussten, das sparte Aufwand bei den Bewachern.

Kapitel 2-4: Die Häfen des Archipels, Die Sklavenkarawanen, Von Insel zu Insel

ausgelassen

Lesespaßfaktor:

Es geht einem wie bei der Lektüre von Büchern über die Grausamkeiten des 2. Weltkrieges und des Holocaust. Man ist schlicht fassungslos über die verübten Grausamkeiten am eigenen Volk, hier über die stalinistischen Säuberungen. Natürlich wusste ich schon einiges über diese Zeit, aber die zahlreichen Details in diesem literarisch gut geschriebenen Buch vertiefen das noch. Zumindest im ersten Drittel. Danach wird es dann doch arg zäh, wenn eine Auflistung von Gerichtsprozessen oder Schicksale von uns unbekannten Soldaten im 2. Weltkrieg in Bezug auf ihre Schwierigkeiten mit der Obrigkeit beschrieben werden. Wehret den Anfängen des Vergessens! Muss man deswegen aber das ganze Buch mit seinen 540 Seiten heute noch lesen? Ja, wir vergessen allzu schnell, wie fragil die Zivilisation ist, aber das Buch ist heute vielleicht doch etwas zu viel. Der Begriff Lesespaß ist hier auch nicht wirklich angebracht.


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