Sonntag, 14. Juli 2024

Ocean Vuong - Auf Erden sind wir kurz grandios

 

Autor:

Ocean Vuong ist ein Schriftsteller mit vietnamesischen Wurzeln. Geboren in Saigon, kam er bereits im Alter von zwei Jahren mit Teilen seiner Familie in die USA. Dort studierte er englische Literatur mit Schwerpunkt Lyrik, seine Gedichte haben in den USA bereits mehrere Preise gewonnen. Neben seiner eigenen schriftstellerischen Tätigkeit hat er eine Hilfsprofessur für Literatur in Amhurst. Er lebt offen schwul und gibt als Religionszugehörigkeit den Buddhismus an.

Buch:

Dieses Buch ist Vuongs erster Roman, der 2019 erschien und im selben Jahr auch ins Deutsche übersetzt wurde. 

Hauptfiguren:
  • ein Sohn, aka 'Kleiner Hund', 28 Jahre alt
  • Rose, seine halb-vietnamesische Mutter, Adressatin des Briefes
  • Lan, seine vietnamesische Großmutter
  • Paul, ihr amerikanischer Mann aus Virginia
  • Mai, die 12 Jahre ältere Halbschwester seiner Mutter
  • Trevor, sein Freund von der Plantage
Inhalt und Rezeption:

Der Ich -Erzähler gedenkt im Alter von 28 Jahren in Briefform -der Brief ist an seine nicht des Lesens fähige Mutter gerichtet- seines Lebens als Einwandererkind, als ein von seiner Mutter sowie seiner Großmutter, die beide schwer vom Vietnamkrieg traumatisiert wurden, aufgezogener junger Mensch, sein Vater ist unbekannt, wird nicht erwähnt. Die Mutter schlägt ihn bis zu seinem 13. Lebensjahr regelmäßig, er ist ein Außenseiter in der Schule, wird überall gemobbt. 

Vor allem von seiner Großmutter Lan erfährt er vieles über die Zeit des Krieges in Vietnam und über die Umstände seiner Geburt. Sie hat sich prostituiert, nachdem sie aus ihrer ersten Ehe mit einem kleinen Kind geflüchtet war. um zu überleben. Seinen vermeintlichen Großvater Paul hat sie jedoch in einer Bar kennengelernt und ihn geheiratet, ein Jahr nach der Geburt seiner Mutter. Erst später erfährt er, dass seine Mutter in Wahrheit doch das Kind eines namenslosen amerikanischen Freiers ist.

Das Außenseitertum ist immer präsent, als kleiner Junge hat er schon zu Paul gesagt, dass "andere Kinder mehr leben als" er selbst. Die Mutter arbeitet in einem Nagelstudio, kontinuierlich den giftigen Chemikalien ausgesetzt, die Hoffnungslosigkeit einer Einwandererexistenz. 
"Ein neuer Einwanderer wird innerhalb von zwei Jahren begreifen, dass das Nagelstudio letztlich ein Ort ist, wo Träume zu dem Wissen verkalken, was es bedeutet, in amerikanischen Leibern -mit oder ohne Staatsbürgerschaft- wach zu sein: schmerzhaft, toxisch, unterbezahlt."
Die Erinnerungen beziehen sich intensiv auf seinen ersten Job auf einer Tabakplantage, wo er Trevor kennen und lieben lernt, später auf ihre Freundschaft oder wie seine Mutter im Nagelstudio einen amputierten Fuß einer Kundin phantomartig massiert. Eines Tages outet er sich seiner Mutter gegenüber über sein Schwulsein, die aber nicht sehr positiv darauf reagiert, gleich das Thema wechselt und ihm im selben Gespräch offenbart, er habe einen älteren Bruder, der aber nach einer vergeblichen Abtreibung bei der Geburt starb. Unappetitlich eine Szene, in der amerikanische Soldaten das Hirn eines Makaken Affen verspeisen, genauso wie der erste richtige schwule Sex mit Trevor.

Er trennt sich eines Tages von Trevor, geht nach New York und kehrt erst dann nach Hartford zurück, als er vom Drogentod seines ehemaligen Freundes erfährt. Einige Monate später stirbt seine Großmutter an Krebs, wieder werden Erlebnisse der Großmutter erzählt, die er selbst nur aus ihren Erzählungen kennt und zusammen mit seiner Mutter begraben sie die Urne in Saigon. die letzten Erinnerungen diffundieren ins Nichts.

Lesespaßfaktor:

Die Geschichte wird in Fragmenten und in Briefform erzählt, nicht als eine Sammlung vieler Briefe, sondern als ein ganz langer Brief. Die 'Handlung' ist die Rückschau auf das Leben des Sohnes, ein Leben mit einer prügelnden, traumatisierten Mutter, die sich in den USA immer fremd fühlt, zumal sie nicht einmal die Sprache erlernt hat. Das ist nicht immer rein sequenziell geschrieben, sondern im Fortlauf des Lebens von Little Dog gibt es auch zwischendurch immer wieder neue Rückblicke, quasi Rückblicke im Rückblick.

Man merkt, dass Vuong auch ein Dichter ist, die Sprache ist in einzelnen Aspekten virtuos, fast lyrisch. Gleich auf der ersten Seite etwa heißt es über die Freiheit: "Freiheit ist nur der Abstand zwischen dem Raubtier und seiner Beute." Auch eine gute Prise Humor ist vorhanden: "Ich sehe von genau drei Seiten gut aus und ätzend von überall sonst." Aber manchmal ist mir die Sprache auch zu blumig, zu metaphorisch ("..., ihr Gesicht ein herabfallender Pfirsich."). Dennoch sind die vielen detailreichen Beobachtungen des jungen Erzählers über seine kleinen Umwelt im Hartford  seiner Jugend sehr schön zu lesen. 

Es geht auch immer wieder darum, wie das Leben als Einwanderer in den USA ist, am Rande der Gesellschaft, Rassismus ausgesetzt und oft sprachlos, weil die Einwanderer die englische Sprache nicht oder kaum erlernen. Die recht detailliert und lang beschriebene homosexuelle Erweckung gefällt mir nicht, bin ich deswegen womöglich homophob?

Zum Ende des zweiten Teils löst sich die Sprache auf in einzelne Gedankenfetzen, es sind quasi Spiegelstriche statt zusammenhängender Gedanken, so wie sich das Leben seines Freundes Trevor auflöst. Man muss als Leser aufpassen, immer den richtigen zeitlichen Bezug zu haben, die zeitlichen Ebenen wechseln ständig, manchmal von Absatz zu Absatz. Sehr Schöne Sätze stehen oft allein dar im Text, ohne inhaltliche Bindung. ("Du und ich, wir waren amerikanisch, bis wir unsere Augen öffneten."). Mit der Lesezeit wird das aber etwas ermüdend, nicht alle Gedanken kann ich nachvollziehen, etwa: "Wo waren wir, bevor wir waren? Wir müssen am Rand eines Feldweges gestanden haben, als die Stadt brannte. Wir waren bestimmt im Begriff zu verschwinden, wie jetzt.".

Am Ende ein Briefroman, der stark beginnt und dann aber ebenso stark nachlässt, nämlich zu dem Zeitpunkt, als ich den Gedankenfragmenten nicht mehr folgen kann, als es egal wird, ob ich diese Sätze lese oder nicht. Daher eine nur durchschnittliche Bewertung, die Begeisterung der vielen Rezensenten kann ich nur sehr bedingt teilen.

♥♡♡

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